Cornelia:
So wie die Droste eine Generation nach Bettina, so kommt Marie eine nach der Droste. Alle drei wurden sehr sorgfältig erzogen, und wie die Droste blieb Marie kinderlos, obwohl sie wie Bettine verheiratet war. Hier nun in Mähren und Österreich ist der Adel international politisch vernetzt, und Marie profitiert von dieser freien Überblicksposition. Und ganz anders als bei der Droste, aber wie bei Bettine, wird die literarische Begabung erkannt und gefördert. Wie die Droste mag sie kleine Sachen und macht sogar eine Lehre als Uhrenbauer, gewinnt dann aber ein klares Profil als soziale Schriftstellerin, die gegen gängige Vorurteile kämpfte
Meine Klassiker Ausgabe enthält zwei Bände „Aus Spätherbsttagen“. Die sind gemischt. Aber es lohnt sich, immer mal wieder mehr von ihr zu lesen.
Meinung
Cornelia meint:
Der Musterschüler
Ich versuche, diese Erzählung wertzuschätzen als one of the first of its kind. Aber schwer fällt es mir, weil so viele Nachfolger dasselbe als Kitsch produzierten. So ist mein Urteil schwankend. Die Figuren sind total schematisch: aufopferungsvoll eingeschüchterte Sohn-liebende Mutter, Mutter-liebender Sohn, beide in Front gegen den Vater, der sich hochgearbeitet hat und alles opfert, damit der Sohn es nach oben schafft, dabei denselben aber durch irrsinnige Strenge so zerstört, dass der in die Donau geht. Brr. Auch die Nebenfiguren: lieber Juden-Junge, der wirklich begabt ist und nicht lernen darf, der Fabrikantensohnoberprotz, die Nachbarin – allerdings Papa Oberprotz ist subtiler gezeichnet.
Aber eigentlich ist mein ästhetisches Urteil egal. Sowas ist nichts für junge Leute. Es führt in Versuchung zur Identifizierung und zum Selbstmitleid, vom Selbstmord abgesehen, der als Opfertod konstruiert wird (oh, wie furchtbar bekannt ist mir dieser Geist!). Vielleicht bietet dieses Buch Anschauungsmaterial für den pädagogischen mainstream und seine Kritik an der Verdinglichung der Kinder für die Interessen der Älteren. Das war früher ein Problem, heute ist es ein Mittel, um jede Disziplin schlechtzureden.
Päd
Maslevs Frau
Auch dies eine Tortur. Es beginnt mit den verschiedenen Perspektiven des alles verstehenden Arztes, und des neuen Kanonikus, der sturmreife Seelen retten will und erst langsam die verfahrene Situation des Ehepaares begreift. Maslev hat seine Frau so lange betrogen, bis sie ihn aussperrt aus ihrem Hof. Das Dorf hört hämisch zu (kein Friedensstifter, nur Anstifter, da hätte der Kanonikus mal was bereinigen können!), wie die beiden einander durch Schwüre die ewige Trennung ins Gesicht schreien. Jetzt ist der Müller am Sterben und der Priester will die Frau zur Fürsorge hinbringen. Aber sie geht nicht, bevor er sie ruft, weil sie das geschworen hat, und weil Gott das auch gehört hat, das hat sie ganz genau gespürt. Er ist schon halb hinüber und weigert sich, sie zu rufen, weil er seinerseits geschworen hat, das nie zu tun. Beide lieben einander immer noch und sehnen sich. Am End wird der Sarg ihr ins Haus getragen, sie weint, und ist dann ganz sicher, daß sie ihn im Paradies wiedersehen wird.
Wiebitte? Wird da tatsächlich das liebe Ich an die Stelle des Richters gesetzt? Scheint so. Graus.
Susannes Weihnachtsfest
Allerentsetzlichste Seelentortur, noch schlimmer, als die anderen. Susanne wurde von Oma versklavt, jetzt aber hat sie geerbt und beschenkt all jene, denen es nicht gut geht. Ihr Weihnachten besteht darin, sich die Freude auszumalen, die sie allen gemacht hat. Und da kommt doch tatsächlich der kleine Toni vom Nachbarn und schenkt ihr was von den Winzigkeiten, die er geschenkt bekommen hat. Damit sie auch was zum Freuen hat. Welche Seligkeit, das erste Geschenk, das sie überhaupt je erhielt. Tränendrüse lass nach! Zugleich freut sie sich auf den Besuch des reichen Vetters mit schöner Frau und Kindern, der immer so herablassend sie gegrüßt hat, wenn sie noch in der Not kaum ihre kalten Glieder bedecken konnte (und nie auf die Idee kam, ihr einen Mantel zu spendieren…). Stattdessen aber kommt bloß ein Bote – bringt allerdings von ihm einen entzückenden Weihnachtsbaum glitzertithzer, und sie ist völlig weg und will ihn unter Glas auf dem Sterbebett bei sich haben. Und entdeckt dann Widmung und kostbaren Ring – und da kommt auch schon der Bote betrunken mit dem Adress-Zettel zurück: Die Lieferung war für die andere Frau Reiner, die mit ei statt ai, im Nachbarhaus, Sängerin… Da ist nun also der hochwürdige Hofrat-Vetter vom Sockel gestürzt, und sie versucht, damit zurecht zu kommen –betet, was sie kann. Und dann fällt ihr der Toni ein, und sie geht rüber zu den Armen Leuten, wo grad Nr. 6 ankam, und bittet, ob sie den Jungen, den sie eh lieb hatte und der als einziger ihr gedankt hat, adoptieren kann. Hurra Ende gut.
Pu. Ihre Freude am den-anderen-Freude-Machen hinterläßt ein beklemmendes Gefühl. Nach dem Fall des Vetters wird ihr auch klar: all jene, denen sie half, sehen in ihr nur die reiche Frau, die ihnen die je eigene Not erleichtert hat. Aber da ist kein Dank, kein Drandenken. Endlich gehen ihr da die Augen auf, sie sieht die Realität und macht die richtige Entscheidung. Immerhin.
Also eine Geschichte über kluges und unkluges Guttun.
GK
Uneröffnet zu verbrennen
Kaltschneuziger Ehemann erträgt das lange Leiden seiner lieben und guten Frau, bis sie stirbt. Nagut. Ihren Brief „uneröffnet verbrennen…“ belächelt er als kleine Geheimnisse einer Kindchenfrau und verbrennt. Dann aber fällt ihm der große Schmerz seines besten Freundes auf. Beider gemeinsamer Jagdaufenthalt steigert sich in wachsendes Mißtrauen und Eifersucht auf der einen Seite, Integrität und Mitleid auf der anderen. Es kommt zum Konflikt, Duell, Tod des Freundes. Aber dann kommt die Zwillingsschwester der Frau angereist und möchte ihren Umschlag „uneröffnet…“ wiederhaben, den sie in einer Notlage bei der Schwester deponierte. Da bricht der Mann zusammen und versteht, daß ein großer Mann (jener Freund) umsonst gestorben ist.
Das Elend der Eifersucht auch bei einem lieblosen Egoisten. Die Frau als Besitz, so daß Ansprüche anderer einen Angriff auf das kostbare Selbst darstellen. Soweit so begreiflich. Unbegreiflich ist das Nebeneinander einer Männerfreundschaft, die offenbar durch die Schäbigkeit des bewunderten Älteren seiner Frau gegenüber beim Jüngeren nicht beeinträchtigt wird. Natürlich liebt und betreut der Jüngere die Kranke, leistet ihr Gesellschaft, liest ihr vor – und alles in allen Ehren. Aber warum berührt die Schäbigkeit des Freundes nicht die jenem entgegengebrachte Hochachtung? Es ist, als lebten diese Männer in zwei Welten: einer Männerwelt, und dann einer Beziehungswelt, die entweder eklig oder edel ist. Und nur manchmal bricht das eine zum andern hin durch.
Relevant höchstens historisch, vom feministischen Standpunkt aus.
Die Reisegefährten
Zwei Fremde im Zug. Die Unverbindlichkeit des Treffens plus Sympathie schaffen Vertrauen. Der junge wird heiraten, schwimmt im Gllück, bekennt nur, daß er, obwohl gläubig, das mit der Reue nie hingekriegt hat. Er hat halt nix zu bereuen (der arme Blinde). Das löst dem anderen die Zunge. Als Arzt beschreibt er eine Handlung, die er nicht bereut, obwohl sie moralisch problematisch und ganz un-ärztlich war: er hat den Tod eines alten Ekels, der alle drei Kinder am Ruinieren war, beschleunigt. Keiner weiß was, Kinder glücklich, ihm dankbar für die gute Betreuung. Aber mit dem Erzählen hat er seinen Mitreisenden zum Opfer seiner Beichtlust gemacht, in somit sozusagen instrumentalisiert.
So findet der Arzt nach der Pause mit Kaffeetrinken draußen, dass sein Begleiter nicht mehr weiter mit ihm fahren wollte und ein anderes Abteil wählte. Der spürte, dass das Zusammensein mit einem, der eine große Sünde beging, für jenen nicht mehr möglich war.
Beeindruckend. Allerdings fragt man sich, ob der Arzt nicht eher bei der absurden Gehorsamskultur in dieser Familie hätte ansetzen müssen. Vielleicht erlaubten die Machtverhältnisse das aber nicht.
BioE, JG
Die Spitzin
Ein katastrophal verwahrloster Junge, dem nur Unrecht getan wurde, verliert durch fehlgeleiteten Stolz seine letzte Wohltäterin, als die von ihm das Bitten um die gewährte Milch verlangt. Er kommt moralisch und physisch immer weiter runter und erschlägt schließlich auch eine Hundemutter, die er betrogen und dadurch ihre unverdiente Liebe gewonnen hat. Und nun bringt ihm die Sterbende ihr einziges überlebendes Hündchen. Der Junge erkennt, daß dies ein genauso verlassenes Wesen ist, wie er selbst – nur hatte das Hündchen wenigstens noch eine liebevolle Mutter. Die dem Jungen nun aufgebürdete Verantwortung für das Hündchen (immerhin, die hat er gleich begriffen) zwingt ihn nun, das Bitten zu lernen. Und damit nimmt sein ganzes Leben eine Wende. Schön, wenn auch grauslich
GK
In letzter Stunde
Professor in den 50ern heiratet – trotz Warnungen des Freundes – sein schönes, liebes, edles Mündel. Und das geht auch gut, obwohl sich der Lieblingsschüler dazufindet, der immer dabei ist, weil auch er den Meister liebt. Dann stirbt die Frau, und der alte Ehemann kriegt die Liebe mit, die die beiden insgeheim füreinander gehegt hatten (wenn auch super-edel kontrolliert). Der Junge sieht sich entdeckt, bittet auf Knien um Verzeihung, und der Alte verzeiht: der Junge konnte aufgrund seines Glaubens der Gläubigen das Sterben erleichtern – und er selbst nicht.
Und die Moral von der Geschicht: Vergiß die Rolle des Alters nicht. Brrr.
Ein Original
Ein offenbar autistischer Mann wird nach dem Tod von Mama von einer klugen Witwe geheiratet und weise regiert. Alles Paletti – obwohl er nie seine Gleichgültigkeit gegen alles – außer Maschinen – ablegt. Dann gibt es eine Tochter, die seine Seele weckt. Plötzlich liebt er – und sie ist ein Ingenieur-Genie. Und sie kommt durch eine elektrische Leitung um, wodurch Papa wieder in seinen Autismus kippt.
Pu
Die Visite
Besuch einer berühmten Autorin bei einer anderen, wechselseitiges Süßholzgeraspel, bis sie einander gestehen, dass keine der beiden die Bücher der je anderen je gelesen hat. Das Thema ist einfach durch – es geht um Blaustrumpferei und die Probleme, die Frauen haben, sich als Schriftstellerinnen durchzusetzen.
Humorvoll genug, um es einer alternden Feministen mit Covid via Telefon vorzulesen
Info
Erscheinungsjahr | 1901 |
Seiten | 500 |
Autor | Ebner-Eschenbach, Marie von 1830-1916 |
Kommentar zu: Ebner-Eschenbach, Marie von – Aus Spätherbsttagen.