(Uraufführung 1887) „Das ist ganz große Literatur. Wenn man Literatur möchte.“
Meinung
Cornelia meint:
Das ist ganz große Literatur. Wenn man Literatur möchte. Nur – ist sie irgendwo nützlich? Sicher für mich, denn in einigen dieser Geschichten wird mir klar, warum die russische Intelligenz so verzweifelt auf die Revolution wartete. Sie waren gefangen in einem Nicht-Leben, und dachten, es kann nur besser werden. Das war ein Irrtum.
Ich sehe an Chechov diesen Irrtum, das ist interessant. Ich respektiere ihn auch als Menschen, denn es ist tiefes Mitleiden, was ihn zu all den schrecklichen Beschreibungen führt. Aber nie gibt es irgendeinen Ausweg. So deprimierend wie bei Gottfried Keller.
Ich respektiere Chechov obwohl es mich schmerzt, wie sein humanitäres Gefühl ihn blind für alles andere macht. Alles wird schlechtgemacht von ihm, alle bestehenden Verhältnisse. Nur die Propheten einer neuen Zeit, die Narren der Bürgerwelt bleiben, kommen vielleicht besser weg, und mit ihnen deren idealistische Verehrerinnen.
Ivanov
Es geht um die Zweideutigkeit von allem und jedem.
Man kann das als halbvolles oder halbleeres Glas lesen
Halbleer: Er beschreibt eine Kultur, die durch die Orthodoxie geprägt ist-. Und er beschreibt ihr Verfallsstadium, denn die schönsten orthodoxen Sätze werden desavouiert durch die ärmlichen Menschen, die sie aussprechen, und die in keiner Weise diese Sätze selbst verkörpern. So kann die Wahrheit des orthodoxen Lebens schlechtgemacht, als bloße Fassade entlarvt werden. Wenn der Onkel es empörend findet, dass der Arzt allen ins Gesicht sagt, wie unsympathisch er sie findet, dann wird seine spätere Rede über die Manieren, den Respekt vor der Menschenwürde, durch seinen eigenen Menschenhass und sein Gegrantel widerlegt
Halbvoll, und das ist meine Sicht, dass in all diesem menschlichen Elend dennoch das Bekenntnis zur Berufung des Menschen lebendig bleibt, auch wenn man da kaum hinterherhecheln kann. Das Prinzip, dass Gutsbesitzer Kostgänger durchfüttern, also die Barmherzigkeit. Natürlich bricht sich das am Anspruchsdenken der Begünstigten und an der Mittelknappheit der Gönner. Ja, so kocht sich das runter in der gefallenen Welt. Aber immerhin, der Sinn für das, was sein soll, ist noch da. Diese Leute scheitern auf hohem Niveau. Auch der Onkel, der immerhin noch Manieren verinnerlicht hat. Der Anwesende immer ausnimmt von seiner Kritik.
Bemerkenswert das Thema der Langeweile, die ganz brutal überall angesprochen wird und eigentlich die Berechtigung dieser Art der Existenz der Besitzenden widerlegt. Wer sich so langweilt, täte besser dran zu arbeiten, so wie der Arzt. Stimmt. Erinnert mich bei Fontane an das ständige Bedürfnis nach Zerstreuung, besonders bei Effi Briest, und an den Schaden, den der Mangel an Zerstreuung anrichtet. Aber dort gibt es, wenigstens im Stechlin, immer noch Leute, die fähig sind, wirklich Kultur-schöpferisch die langen Abende zu füllen. Auch wenn da immer Wiederholungen aufgelegt werden und das ganze an einen rituellen Tanz erinnert. Aber ist es je anders? Man muss schon auf Reisen sein, um überall wie Biene den Nektar zu trinken.
Ein großes und ergreifendes Drama. Ivanov ist Gutsbesitzer und Richter. Früher hat er leidenschaftlich für das Gute gekämpft, aber ihm sind die Flügel gerupft worden und er hat resigniert. Am Ende sagt er, er hat sich zu viel aufgehalst, weil er prahlen wollte, und ist dran zerbrochen. Jetzt ist ihm in seiner Haut unwohl, da ist kein Ich. Es geht um die Ambiguität seines Charakters. Er selbst sieht sich nur in seiner Depression als Opfer und edel. Leidet unter seiner Unleidlichkeit und bereut seine Bosheiten. Schuldgefühle. Übersensibel und schwach. Und ausgeliefert seiner Unfähigkeit, seine sterbende Frau noch zu lieben. Kann keinen Abend bei ihr ertragen – geht zu Besuch. Schätzt Ehrlichkeit, ist höflich. Und irgendwann dann doch hingerissen von Nachbars Sascha, die ihn retten will und neue Jugend verspricht. Sascha ist das Urbild jugendlicher Unversehrtheit und Feinfühligkeit. Die Lichtgestalt neben der Ehefrau. Beide argumentieren gegen die Bosheit der Mitmenschen, beide langweilen sich zu Tode.
Aber zugleich ist Sascha Opfer des Egoismus ihrer eigenen Liebe.
Der Arzt seiner Frau (Lvov) konfrontiert Ivanov mit seinem Egoismus, seiner verbrecherischen Lieblosigkeit, konstruiert Ivanovs frühere Liebe als Hoffnung auf die jüdische Mitgift, eine Liebe, die abkühlte, als die jüdischen Eltern die Tochter wegen Konversion verstießen. Sascha hasst im Arzt den Ehrenfutzi, Anna versucht, ihn liebevoll von seinen Vorwürfen abzubringen.
„Sie sind ein guter Mensch, doch Sie verstehen nichts.“ Das ist das Zentrum der Weisheit in diesem Stück.
Der Onkel sieht im Arzt einen linken Ideologen. Zweideutigkeit der Ehrlichkeit: Ivanov schätzt Lvovs Rücksichtslosigkeit, Onkel findet das ungezogen und will auch Verbrechern gegenüber Würde respektiert sehen. Dieser Onkel ist sehr subtil.
Diese Zweideutigkeit, Unfestlegbarkeit wird niemals aufgelöst. Die moralische Integrität, der moralische Furor des Arztes, der jedem die Wahrheit aufdrückt und damit alle Katastrophen erst auflöst (die sonst vielleicht geschmort hätten) stellt die Lebbarkeit und Liebe-Verträglichkeit der Moral in Frage.
Zugleich aber auch von Chechovs Seite eine ebenso schonungslose Diagnose über die besitzende Klasse und ihr entleertes Parasitendasein. Da gibt es wohl familiäre Kostgänger in jedem Haus (so Onkel Schabelskij), aber die werden so kurz gehalten, dass sie sich zu Tode langweilen, und zugleich gedemütigt. Family values hier mal in bitter. Da gibt es den Geiz der reichen Sinaida, die alle beherrscht, auch ihren Mann. Dann Borkin, den Gutsverwalter, der ständig Ideen hätte, wie man das fehlende Geld beischaffen könnte, aber es sind alles Luftnummern, auch seine Pläne, Onkel mit einer Kaufmannswitwe zu verheiraten die gerne Gräfin wäre und reich ist. Nix wird jemals draus, obwohl das schon der kommende Kapitalismus ist, der alles zu Geld macht.
Die jüdische Anna ist rein die Liebe, will Güte um sich. Onkel sehnt sich nach dem Grab seiner Frau. Hinter seiner Misanthropie liegt Treue und Trauer.
Es gibt bei all diesen Personen viel moralische Integrität im Sinne einer Sensibilität für die eigenen Unfähigkeiten, die durch die Orthodoxie gefördert wird. Das ist es, was dies lesenswert macht. Und auch, welchen Schaden der radikale Moralismus anrichtet.
Hinzu kommt: das Gut ist abgewirtschaftet und steht vor dem Ruin. Das ist eine Zeitdiagnose, die die Revolution willkommen hieß. Saschas Papa gibt Geld und will retten, will die neue Ehe. Wird nix.
Im Schlußmonolog scheint es, als ob Ivanov daran zugrunde gegangen wäre, dass er selbst seine Ziele nicht erreichte und sah, wie seine Frau ein Opfer brachte, das ihr zu hoch wurde, nämlich den Verlust ihrer Eltern. Und an dieser Spiegelung seines Scheiterns hörte seine Liebe auf. Er diagnostiziert seine Eigenliebe als Grundproblem wie der beste Orthodoxe. Am Ende versetzt des Arztes Diagnose seiner Scheußlichkeit ihm den Todesstoß, denn er leidet eben daran ja selbst, – was der Arzt nicht sehen kann, der nur seine sterbende Patientin sieht. Ivanov appelliert an die Selbstkritik des Arztes, die seine Selbstüberzeugtheit lindern könnte, aber rennt gegen Felsen.
Und dann beschuldigt der Arzt Ivanov auch noch, ihm den Glauben an die Menschen geraubt zu haben. Und er verrät der sterbenden Anna, dass Sascha, die „Neue“, da war, – versetzt ihr mit der von ihm stipulierten Wahrheit den Todesstoß, nimmt ihr die Gewissheit der Liebe des Ehemanns, ihr kostbarstes Gut. Und daraufhin verletzt sie Ivanov so sehr dass er sie über ihren nahen Tod informiert. Neue Schuld.
Am Ende ist Anna tot und die Hochzeit ist anberaumt, aber der Arzt mit seiner Wahrheit ruiniert alles, weil er es nicht ertragen kann, seine Sicht bestätigt zu sehen, und weil er dem Bösen das Handwerk legen will. Auch der Kostgänger bei Lebedevs hält Ivanov für einen Betrüger. Und Sascha selbst hat keine Liebe mehr. Die Gerüchte sind zu mächtig, und er benimmt sich so schräg. Sie will ihn trotzdem unbedingt retten. Aber dann will Ivanov plötzlich doch nicht mehr heiraten, weil er sich alt fühlt. Und zu stolz, sich retten und von anderen verdammen zu lassen. Und am Ende diagnostiziert auch er in Saschas Opferbereitschaft den Egoismus des Rettenwollens. Und Lvov hat allen Briefe geschrieben
-da erschießt sich Ivanov.
Also: Edelmut, Sensibilität, Schuldgefühle – die ganze moralische Kultur, die die Orthodoxie hat wachsen lassen, geht hier in Trümmer, sobald als Katalysator ein Moralist dazukommt. Oder vielleicht ist er nur der Auslöser.
Wir sehen hier, was vom Christentum bleibt, wenn man die Kirche rausnimmt und keiner mehr Gott erfahren kann. Dann fällt die Blütenwelt in sich zusammen.
OR. JG-
Info
Erscheinungsjahr | 19. Jh., 2. Hälfte |
Seiten | < 100 |
Autor | Tschechow, Anton |
Kommentar zu: Tschechow, Anton – Iwanow.