Deutsche Erstausgabe mit Unterstützung der DOM-Gesellschaft
Ein langgehegtes Projekt unserer AG Publikation hat einen erfolgreichen Abschluss gefunden. Mit freundlicher Genehmigung des Moskauer Alexander-Solschenizyn-Hauses der russischen Emigration ist soeben das Spätwerk des russischen Schriftstellers Sergej Fudel „An den Mauern der Kirche“ in deutscher Sprache beim Verlag Hagia Sophia erschienen. Der Verfasser ist Zeitzeuge einer Epoche geworden, in der die Russische Orthodoxe Kirche ungekannten Verfolgungen ausgesetzt war. Seine ganz persönlichen Einsichten in die Situation einer vom Unglauben bedrängten Kirche sind keineswegs nur historisch interessant. Wie geht Glaube unter solchen Umständen?
Dies ist kein Buch, das man durchliest und dann in die Ecke legt. Dazu ist diese Mischung aus Tagebuch, Zeitdokument, schriftstellerischer Tiefe und theologischer Reflexion viel zu facettenreich.
Eine ganze Epoche, die so leidvolle Geschichte der Russischen Kirche in der Sowjetzeit, wird anhand vieler Einzelepisoden deutlich. Die großen Namen der nachrevolutionären Verfolgten und Neumartyrer werden lebendig – Sergej Fudel war mit vielen von ihnen bekannt, teilte ihr Schicksal der Verbannung und Haft.
Aber das ist nicht der Kern des Buches, denn es geht um etwas noch Tieferes: Was bleibt von Kirche, wenn die Pforten der Hölle sich anschicken, sie zu „überwinden“ – und was ist damals wirklich untergegangen, vielleicht unwiderbringlich verloren? Was lässt sich auch mit viel Geld, Gold und Farbe nicht mehr zurückholen?
Sergej Fudel ist ein genauer Beobachter, und in kurzen, scheinbar zusammenhanglosen Episoden malt er ein Bild, das zu jedem von uns spricht: Es ist das Bild einer Kirche, nicht wie sie sein sollte, nicht wie wir sie uns vorstellen, sondern wie sie ist: mit Licht, das man suchen muss, mit Schatten, der ins Auge springt, mit einem ungebrochenem inneren Kraftquell.
Einmal in den zwanziger Jahren war in einer Kirche nahe bei Moskau gerade die Liturgie zu Ende gegangen. Alles verlief wie gewohnt, der Priester sprach den Schlusssegen. Dann kam er aus dem Altar heraus zu den Umstehenden und begann, sich vor ihnen zu entkleiden. In die bedrückende Stille hinein, die daraufhin eintrat, sprach er: „Ich habe Sie zwanzig Jahre lang betrogen, und jetzt lege ich diese Kleider ab.“ Im Kirchenvolk erhob sich Unruhe, Geschrei, Weinen. Die Menschen waren schockiert und beleidigt: „Warum hat er dann heute gedient?“ Es ist schwer zu sagen, wie das hätte ausgehen können, wenn nicht plötzlich ein junger Mann auf die Altarstufen gestiegen wäre und gesagt hätte: „Warum seid ihr so beunruhigt und weint? Schließlich war es schon immer so. Denkt daran, wie Judas sogar beim Letzten Abendmahl dabeisaß.“ Und irgendwie wirkten diese Worte, die Erinnerung an die Existenz des dunklen Doppelgängers der Kirche in der Geschichte, beruhigend auf viele oder halfen, es zu verstehen. Auch des Judas Anwesenheit beim Abendmahl konnte dem Mysterium keinen Abbruch tun.
Es ist ein warmherziges, ein wärmendes Buch, trotz (oder dank?) seiner Schonungslosigkeit. Es geht um Unglauben in der Kirche, Gleichgültigkeit gegenüber den Gläubigen, rituellen Formalismus, staatliche Kontrolle. Die schwindende Hoffnung auf ein inneres Wiedererblühen der Russischen Kirche (Fudel starb 1977), ihr scheinbar unaufhaltsamer Rückzug aus der Realität der Gesellschaft bewegte den Verfasser tief. Und dennoch: Immer wieder Hoffnung, immer wieder Vertrauen auf die Zeichen der Präsenz Gottes, der Wirkung des Heiligen Geistes: Nein, wirklich überwinden kann der Hades die Kirche nicht. Fudel zeichnet ihre dunklen Schatten, und vor diesem Hintergrund erstrahlt auch ihr Licht umso heller.
Ein Mädchen aus unserer Zeit erklärte einmal beiläufig in einem Gespräch, das sich um das künftige Leben drehte, das Verderbliche der Bosheit gegenüber den Menschen wie folgt: Schließlich müsse man dort einem jeden freudig begegnen, sagte sie. – Lernt nicht nur von den heiligen Vätern, sondern auch bei den Mädchen von heute.
„Verfolgte Kirche“ stellt sich bei Fudel nicht vordergründig als Opfer von Gewehrsalven und Sprengsätzen dar: Es ist zugleich der Schatten der Kirche selbst, von dem sie verfolgt wird, so schwer diese Erkenntnis fällt. Das war auch schon vor der Revolution von 1917 so.
Mein Vater war ein sehr frommer Priester, ein Schüler der Altväter von Optina und von Leontjew, doch ich weiß noch, wie er in der stickigen, gewitterschwangeren Luft der vorrevolutionären Kirchlichkeit gelitten hat. Es genügt zu erwähnen, dass Tolstoj vom Synod exkommuniziert wurde, Rasputin dagegen nicht nur der Exkommunikation entging, sondern im Mittelpunkt der höchsten orthodoxen Hierarchien stand.
Unter Verhältnissen, die erschreckende Parallelen zur Säkularisation unserer Tage aufweisen, erblüht bei Fudel das, was Kirche auch ist: die für die Mächtigen und Verfolgern nicht greifbare Gemeinschaft der Gläubigen im Heiligen Geist, die sich zuweilen auf ganz unerwartete Weise manifestiert.
Eine rechtschaffene alte Frau aus dem Dorf lag im Sterben und bat ihre Tochter immer wieder, den Priester zu holen, um die Kommunion zu empfangen. Aber es war sehr weit bis zur Kirche und tiefster Winter, und die Tochter blieb daheim. Und dann sagte die Sterbende eines Nachts zu ihrer Enkelin, einem etwa sechsjährigen Mädchen: „Gib mir zu trinken.“ Und als diese ihr einen Krug brachte, konnte sie den Gesang hören: Nehmet den Leib Christi …
***
Es war dann wohl am 40. Tag, die Blumen auf dem Grab von Vater Nikolaj waren noch nicht ganz verwelkt, da kamen wir wieder zusammen, einander zwar unbekannte, aber doch irgendwie eng miteinander verbundene Menschen … Eine Panichida schien undenkbar, aber unverhofft hören wir jemanden sie lesen, selbstbewusst, geübt, mit gedämpfter Stimme. Wir erblickten einen abseits von allen, direkt am Grab stehenden Mann, den ich nicht kannte, in einem Ledermantel, glattrasiert, in gesetztem Alter, wenn auch kein Greis. Da rückte uns der Himmel noch näher, und die Menschenschlange rückte noch enger zusammen. Als dieser Mann fertig war, sich vor dem Grab verneigte und zum Ausgang an uns vorbeiging, sagten wir alle leise zu ihm: „Danke.“
Fudel ist kein Kirchenvater, seine Schriften sind vielmehr Ausdruck aufrechten Glaubens und des persönlichen christlichen Zeugnisses in Zeiten großer Bedrängnis. „An den Mauern der Kirche“ ist zugleich ein wunderbares Buch über das, was Kirche nicht ist, und was wir doch so oft dafür halten. Es erinnert uns in unserer heutigen geistlichen Wüste daran, dass es stets auch Oasen gibt, mehr noch: dass diese Wüste für uns auch zur Sketis werden kann, zur geistlichen Heimat – durch jene Sorte von Liebe, die nun wirklich von keiner Hadespforte besiegt werden kann. Wer zuweilen an der Kälte unserer pharisäischen Welt zu verzweifeln droht, der lese dieses Buch.
Und wieder stand ich an einem riesigen Fenster in einem neuen Stadtteil von Moskau. Es war Nacht, und die Sterne kamen wie Leuchtfeuer zwischen den Wolken hervor. Die Last wurde mir von der Seele genommen, als ob ein Lebensfaden, gewebt aus Hoffnung und Freude, der sich irgendwo in der Dunkelheit verloren hatte, plötzlich wiedergefunden worden wäre, und die Stadt erschien nicht mehr wie eine Fremde, sondern als die Wohnstätte leidender Menschen. Wir sind in diesen fünfzig Jahren nicht verbittert geworden und beten auch jetzt in dieser Stadt – wie am Bett eines Schwerkranken. Dies ist das Land Deines Volkes, Herr!
HP Arnold (alle Zitate: S. Fudel „An dern Mauern der Kirche“)
Über Sergej Fudel
Geboren in der Familie des Priesters des Moskauer Butyrka-Gefängnisses, Joseph Fudel, absolvierte er 1917 das 5. Moskauer Gymnasium, studierte anschließend von 1918 bis 1920 an der Fakultät für Geschichte und Philologie der Moskauer Universität sowie an der Fakultät für Philosophie. Danach diente er in der Armee und studierte an der Höheren Militärpädagogischen Schule in der Abteilung für russische Sprache und Literatur.
Am 23. Juli 1922 wurde er wegen antirevolutionärer Aktivitäten verhaftet und im Dezember nach Ust-Sysolsk geschickt, wo er im Januar 1923 ankam, dann weiter nach Knjazh-Pogost im Bezirk Ust-Vymskij, wo er bis April 1925 in Verbannung verbrachte.
Am 23. Juli 1923 heiratete Sergej Fudel in der Unterkunft des ebenfalls verbannten Bischofs von Kowrow Afanasij (Sacharow) seine Verlobte Vera Maksimowna Sytina (1901-1988), die ihm aus Moskau in die Verbannung gefolgt war. Am 26. Mai 1924 wurde ihr Sohn Nikolaj geboren.
Von 1925 bis 1932 lebte die Familie Fudel in Moskau; Sergej arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Obst- und Gemüseanbau; am 11. November 1931 wurde Tochter Maria geboren.
Am 1. Januar 1933 wurde er erneut verhaftet und wegen „antisowjetischer Hetze“ sowie „unterlassener Anzeige eines konterrevolutionären Verbrechens“ zu drei Jahren Verbannung verurteilt. Im Februar wurde er nach Jawenga geschickt, im Mai in ein Holzfällerlager in der Nähe von Welsk verbracht und im Juli nach Wologda überstellt, wo er bis Januar 1936 im Exil war.
Nach der Zeit in Wologda lebte die Familie Fudel bis 1942 in Sagorsk, wo Sergej als Buchhalter in einer Genossenschaft und anschließend in einer Fabrik arbeitete.
Am 11. Juli 1941 wurde Tochter Warwara geboren. Zu dieser Zeit war ihr Haus der Ort geheimer Gottesdienste und Zuflucht für Geistliche, die sich vor Verfolgung versteckten, wie zum Beispiel Archimandrit Serafim (Bitjugow).
Im 2. Weltkrieg diente Fudel bis August 1945 als einfacher Wachsoldat bei den Eisenbahntruppen.
Am 17. Mai 1946 wurde er im Rahmen der „Verfolgung des antisowjetischen kirchlichen Untergrunds“ zum dritten Mal verhaftet und am 30. November zu fünf Jahren Verbannung verurteilt, die er zunächst in Minusinsk verbüßte (bis August 1947 oder September 1948), dann bis Juli 1951 im Dorf Bolschoj Uluj, Region Krasnojarsk. Nach dem Ende des Exils lebten die Fudels in Usman (bis zum Herbst 1962), wo Sergei als Buchhalter arbeitete und sich durch privaten Englischunterricht etwas dazuverdiente.
Seit 1955 begann die literarische Tätigkeit von Sergei Fudel. Das erste Werk, „An meine Kinder und Freunde“, beendete er 1956, die erste Version von „Der Weg der Väter“ 1957, danach folgten 1959-1961 „Die Kirche der Gläubigen“, „Licht der Kirche“, „Konziliarität der Kirche und Ökumene“. Charakter und Inhalt der Werke Fudels führten zwangsläufig zum Verbot seiner Werke.
Im November 1962 zog die Familie nach Pokrow, wo Fudel als Psalmleser in der Maria-Schutz-Kirche diente. Zu dieser Zeit fertigte er auch Übersetzungen für die Verlagsabteilung des Moskauer Patriarchats. In Pokrow wurde 1963 sein Buch „Dostojewskis Vermächtnis“ fertig, die Arbeit an einem Buch über Pawel Florenskij begann: „Der Anfang der Erkenntnis über die Kirche“. Es wurde 1972 in Paris im Verlag YMCA-Press veröffentlicht, ohne Wissen des Autors und unter dem Pseudonym F. Udelov. In den 1970er Jahren erschienen im Selbstverlag seine Bücher „Heilige Tradition“, „Gemeinschaft des ewigen Lebens“, „An den Mauern der Kirche“, „Slawophilentum und Kirche“, „Notizen zur Liturgie und zur Kirche“.
Sergej Fudel starb am 7. März 1977 in Pokrow an einer bösartigen Erkrankung der Lymphknoten; Am 9. März wurde er auf dem Stadtfriedhof Pokrowsk beigesetzt. Am 9. September 2017 wurden die sterblichen Überreste von Sergej Fudel und seiner Frau Vera auf das Territorium der städtischen Maria-Schutz-Kirche überführt.
(Biografische Angaben aus russ. Wikipedia)
Schreibe einen Kommentar