Dostojewski, Fjodor – Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke

(1863 | 300 S.)

Meinung

Lese mit ungewohnter Begeisterung diese Reflexionen. Faszinierend, wie er auf S. 45 im Kap IV die französischen Prinzipien liberté, égalité und fraternité zerpflückt. Das ist perfekt und zitierwürdig.  Aber wenn er dann für die Fraternität das Gegenbild des freien Selbstopfers für alle ansetzt, dann hat er Christi Kreuzestod moralisiert. Dieses Ideal ist unangemessen für Menschen und überfordert sie. Und dann fallen sie auf die Nase. Schon der Idiot fällt auf die Nase, der der Sache doch nahekommt, soweit seine Krankheit es ihm erlaubt. Ich glaube, hier ist Sossima weiter: er hat erkannt, daß allgemeine Menschenliebe nix ist und daß man den Nächsten mit tätiger Hilfe lieben soll.

Aber weiterhin spukt in den russischen Hirnen diese Allversöhnung herum, auch bei Tolstoi, und die landet dann im Sozialismus, den Dostojewski hier auch wunderbar karikiert (Hasenragout braucht einen Hasen, und der fehlende Hase ist die wahrhaft brüderliche Menschennatur…).

Das letzte Kapitel analysiert den Bourgeois und die Beziehung zwischen den Geschlechtern. Ein sarkastisches Bild des 19. Jh Kapitalismus. Gut und schön, ich verstehe ja auch, wie ein hochgestimmter Mensch die Verlogenheit bürgerlicher Moral zur Sau machen kann. Aber wenn ich vom 21. Jh zurückblicke, so bedauere ich tatsächlich den Verlust einer offiziell gültigen Grundmoral Auch das bourgeoise Prinzip, Hauptsache man hat politischen Frieden, kann ich als Christ nur bejahen: man muß den ja nicht nur zum Geldraffen verwenden, man kann auch die Kirche aufbauen. Und auch dem kirchlichen Leben ist eine Moral, selbst als Doppelmoral, hilfreich. Während D. also im 19. Jh. das französische Vorbild der russischen Elite als „bloß halbvolles Glas Wasser“ abtun kann, schauen wir heute zurück und denken: nuja, immerhin war es nur halb leer.

Gewiss, wenn man Flaubert und Balzac liest, ist man erschrocken über diese Kultur. Aber Schriftsteller sind nie gerecht, und sie haben einen Markt an Sensations-gierigen Lesern, den sie bedienen. Es gibt ja auch noch Daudet.

Kurz, dieses Buch bietet fabelhaften Diskussionsstoff.

JG+

Info

Erscheinungsjahr19. Jh., 2. Hälfte
Seiten100-300
AutorDostojewski, Fjodor

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