Eliot, George – Middlemarch

(1872 | 800 S.)

Meinung

Cornelia meint:

Diese beiden Bände haben mich begeistert. Eliot übernimmt die Rolle der allwissenden Erzählerin, die geradezu als Seherin die Tiefen der Seelen, ihre Untiefen und Selbsttäuschungen, ihre Verblendungen und hohen Ziele, ihre Egoismen und Boshaftigkeiten, ihre Heucheleien und die subtile Mechanik ihrer Fehl-Anpassungen an die Wirklichkeit vorhersieht, vorhersagt, darstellt und hinterher deutet. Das englische Provinzstädtchen mit den umliegenden Landsitzen wird zum theatrum mundi. Alles ist da. Es spricht aus ihren bewundernswerten Charakterzeichnungen eine ironisch-distanzierte Liebe, und dabei werden diese Charaktere zugleich zu Bildern in einer Phänomenologie moralischer Heldentaten und Versäumnisse.

Es gibt richtige Bösewichter: der Erbonkel, der alle an der Nase herumgeführt hat, und der Erpresser Raffels. Ansonsten erwächst das Böse aus Versunkenheit in Eigenliebe (aufstiegssüchtig in Bulstrode, der sein früheres Verbrechen durch Wohltätigkeit und frommes Salbadern überdeckt, amusant und schwach bei Brooke, erlösungsbedürftig beim jungen Fred, der das Leben der gentry leben will, ohne sein Gewissen durch die Wahrnehmung der Chance einer Landpfarrei zu opfern und am Ende nur durch die Liebe der geliebten Mary gerettet wird, ekelhaft verknöchert und neidisch bei Casaubon, von dem die arme Maria Zugang zu höheren Kulturgütern erhoffte und schrecklich dafür büßte, dass sie Ideale suchte, liebenswert im Stolz der Männer, Lydgates, des Arztes, der den Fortschritt und Ruhm zum Wohl der Menschheit sucht und sich durch gedankenlose Flirterei unter den Pantoffel der schönsten Frau fangen lässt,  und Ladislaws, der aus Frust über die Aussichtslosigkeit seiner Liebe zu Mary sich von Rosamund an den Rand des Ehebruchs bringen lässt) und gebiert schreckliches Unheil und Leid. Die überwältigende Selbstlosigkeit von Caleb und seiner Tochter Martha, von Maria, die ihre Rivalin Rosamund noch zu trösten sucht, des Vikars Farebrother, der um des jungen Fred willen auf das eigene Glück mit Martha verzichtet) – das sind große Heldenlieder, die hier ausgespielt werden. Middlemarch ist die kleine Welt, die das Große nicht erträgt sondern kleinredet, stets bereit, dem Besten das Schlechteste zu unterstellen.

Das Buch ist ein feministisches Buch im guten Sinne: Es stellt die Geltung des Patriarchats dar und legt schonungslos dessen Grausamkeit und Beschränktheit offen. Es zeigt mehr oder weniger subtile Weisen, in denen Frauen ihre Männer auf subtile Art dennoch beherrschen. Und so werden alle Höhenflüge zum Scheitern gebracht: Mary macht keine philanthropischen Großprojekte, weil ihr Schwager James diese nicht realistisch findet – am Ende dient sie ihrem Mann Ladislaw mit einer Hingabe, die bei Casaubon nur verschwendet war, bei dessen angesichts mangelnder künstlerischer Begabung verfolgten politischen Zielen, Lydgate wird nicht als Forscher berühmt, sondern muss gutes Geld verdienen, – all seine Träume zerbrechen. Fred wird friedlich gezähmt. Das Buch zeigt auch die verderbliche Wirkung adeliger Parasitenexistenz.  

Was mich neben dem unglaublichen Selbstopfer Marias für ihre Ehe mit Casaubon aber besonders berührt, ist das Männerbild dieses Buches. Zumindest einige dieser Männer haben ein Gefühl der Ehre und der moralischen Integrität, das zwar manchmal in die Irre oder geradezu in die Katastrophe führen kann, andererseits aber mit einer Verpflichtung auf das Wohl der schwachen Frau an ihrer Seite einhergeht. Auch Lydgate opfert sein Leben, denn er hat nun mal diese Frau genommen, die nur sich selbst lieben kann, für deren Glück er aber dennoch verantwortlich ist. Selbst Bulstrode, das Ungetüm, leidet darunter, dass seine Frau seine Schande miterleben muss. Und dann gibt es diese dicken, behäbigen, erdverbundenen Ehefrauen, die ihre Männer tadellos lieben, nur halt gegeneinander mitleidslos tratschen. Kein Mensch würde auf den Gedanken einer Scheidung kommen. (Ulkigerweise hat Eliot mit einem verheirateten Mann zusammengelebt, dessen Ehe hin war, was aber die Gesellschaft nicht beglückte.)

 Und wo ist Gott? Er ist in der Selbstlosigkeit der Selbstlosen, ganz nach innen verlegt. Ansonsten ziemlich Nemesis.  Und das nehme ich Eliot übel: Ja, Lydgate war nicht achtsam sondern hat sich einfangen lassen durch die Ränke Rosamunds. Ja, er ist selbst schuld daran, die Vorstellungen dieses Mädchens nicht erforscht und gegen seine eigenen Ziele abgeklärt zu haben. Ja, er hat sich hinreißen lassen, wider sein besseres Urteil. Er war schwach. Aber dann hat er ein wahres Heldentum der Entsagung gezeigt. Eliot kennt da keine Gnade: dieses Leben ist verpfuscht, und kein gnädiger Gott sieht und belohnt das Opfer dieser fehlgeleiteten Liebe. Da scheint etwas von der Herzensgrausamkeit der evangelikalen Erziehung durch.

Wichtig die Botschaft: Das Gute geschieht im Kleinen. Darin, im sozialen Umfeld allen das Leben ein wenig leichter und schöner zu machen. Eine Absage an die Geschichte mit ihren Berühmtheiten und eine Feier der stillen Familien- und Freundeswelt.

Ein großartiges Lehrbuch der Maschinerie im Inneren der menschlichen Seele mit all ihren Kräften und Gegenkräften, und der Moral, mit all ihren guten und schlechten Folgen.

Jg +

Info

Erscheinungsjahr19. Jh., 2. Hälfte
Seiten> 600
AutorEliot, George

Kommentare

Kommentar zu: Eliot, George – Middlemarch.

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