DIE VEREHRUNG DER HEILIGEN UND DIE VERBREITUNG DER CHRISTLICHEN LEHRE AUF DEUTSCHEM BODEN

Am 12. September 2019 fand im Russischen Haus für Wissenschaft und Kultur in Berlin eine internationale wissenschaftlich-praktische Konferenz zum Thema „Die Heiligen Deutschlands des ersten Jahrtausends“ statt. Einer der Vorträge, gehalten von  Erzpriester André Sikojev, dem Priester der Kirche Schutz der Gottesmutter in Berlin, behandelt den missionarischen Aspekt der Verehrung deutscher Heiliger. Nachfolgend veröffentlicht die DOM Gesellschaft zu Ehren des Hl. Erzengels Michael mit freundlicher Genehmigung des Verfassers das Manuskript dieses Vortrags.


Vr. André Sikojev beschreibt einleitend das im deutschen Sprachraum vorherrschende gebrochene Verhältnis zu den eigenen Heiligen als einen der Gründe dafür, dass orthodoxe Glaubensweise es schwer hat, hier Fuß zu fassen. Er betrachtet anschließend die geschichtliche Degradation der Heiligenverehrung, und stellt diesen Prozess in den Kontext der häretischen Einflüsse, die ab dem 9. Jahrhundert im westlichen Christentum an Kraft gewannen. Dabei werden theologische Verwerfungen wie die Lehre vom „filioque“ und die Reduktion der Heiligen auf moralische Vorbilder durch den lutherischen Protestantismus betrachtet, aber auch die politischen Einflussnahmen und Ereignisse, die zu dem heutigen Missverhältnis gegenüber dem Heilligen geführt haben. Vr. André bezeichnet dies mit dem Bild des „verschlossenen Himmels“ über Deutschland. Diesen Himmel wieder zu öffnen, dem Heiligen und den Heiligen den gebührenden Platz im irdischen Leben wieder einzuräumen, kann aus der Sicht von Vr. André dank des wachsenden Einflusses orthodoxer Religiosität im deutschen Sprachraum gelingen, wenn Gottes Gnade dieses Anliegen segnet, und die christliche Liebe in ihrem Wirken auch die konziliare Unterstützung der orthodoxen Bischöfe findet.


DIE VEREHRUNG DER HEILIGEN UND DIE VERBREITUNG DER CHRISTLICHEN LEHRE AUF DEUTSCHEM BODEN

DER HIMMEL ÜBER DEUTSCHLAND. Von den Organisatoren unserer Konferenz wurde mir Aufgabe gestellt, einige historische, kulturelle, soziale Hintergründe und Ereignisse zu beleuchten, welche das Verhältnis der deutschen Gläubigen in diesem Land zu den orthodoxen Heiligen und den Heiligen „Germaniens“– dem Himmel über Deutschland – geprägt haben.

Bei der Vorbereitung auf unser heutiges Treffen hat mich darüber hinaus die Frage der Wirkung, aber auch Wirkungslosigkeit insbesondere der russischen orthodoxen Mission innerhalb der deutschen Bevölkerung und v.a. der geistigen, wissenschaftlichen und politischen Eliten persönlich beschäftigt. Immerhin hat die deutsche Mission der Russischen Orthodoxen Kirche beginnend mit dem umfassenden Übersetzungswerk des Erzpriesters Alexej Maltzev (†1915) bis zum heutigen Tag mindestens vier durchaus substantielle liturgisch-patristische Übersetzungsphasen durchlaufen. Und obwohl in vielen russischen orthodoxen Gemeinden unserer Diözesen und in beiden Klöstern der ROKA deutschsprachige Gottesdienste stattfinden, ja sogar hier und dort  vereinzelt deutschsprachige Gemeinden existieren – bleibt die Wirkung in die deutsche Bevölkerung hinein, anders als z.B. die orthodoxe Mission in den USA oder sogar Japan, eher gering. 

Über die möglichen Ursachen des heutigen oft unbefriedigenden status quo hat schon mancher Bischof, Priester oder Laie nachgedacht. Einer der selten bedachten Gründe könnte „der verschlossene Himmel“ über Deutschland sein: die jahrhundertelange Verdrängung der Heiligen aus der Glaubenswelt des deutschen Volkes. Ich hoffe, die folgenden Ausführungen können für unser Gottgesegnetes Vorhaben der künftigen Verherrlichung der deutschen Heiligen von Nutzen sein.

Industrielandschaft

VORAUSSETZUNGEN.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass unsere allgemeinsprachliche Verwendung des Begriffs „Deutschland“ (russ.: germania) und „deutsch“ eher eine Überschrift denn eine wissenschaftlich-historisch genaue Bezeichnung darstellt. Denn wir sprechen von den ersten Jahrhunderten der christlichen Mission im Römischen Reich unter den germanischen Stämmen, über die Epoche der Völkerwanderung, danach beginnend mit Karl dem Großen und den Franken, der Formierung des Römischen Reichs deutscher Nation, von der Reformation, den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden 1648 mit dem Verbund deutscher Fürstentümer bis hin zur modernen Reichsgründung im 19. Jahrhundert und schließlich der Weltkriegsepoche im 20. Jh.  

Darüber hinaus können wir davon ausgehen, dass die Heiligenverehrung auf deutschem Boden aus kirchengeschichtlicher und ekklesiologisch-dogmatischer Perspektive mehrere Epochen durchlaufen hat und von einschneidenden Ereignissen – zum Teil regressiv – geprägt worden ist.

Bis zum heutigen Tag stehen auf deutschem Boden, auch in der Schweiz und Österreich, Kirchen, die den Heiligen der Einen Apostolischen, Katholischen und Orthodoxen Kirche geweiht sind. Ihre Verehrung ist – besonders im katholischen Süden Deutschlands – noch oft Tradition unter frommen Gläubigen katholischer und lutherischer Prägung bis zum heutigen Tag, wenn auch oft unsichtbar und immer vereinzelter. Die Rede ist von der Allerheiligsten Gottsmutter, den Hll. Erzengeln Michael und Gabriel, dem Propheten und Täufer Johannes und anderen Propheten Israels wie Elias und Jeremias, den Hll. Aposteln wie insbesondere dem Hl. Ap. Matthäus, den Hll. Myronträgerinnen und zahlreichen Märtyrern und Kirchenväter der ersten Jahrhunderte. Hervorgehoben sei beispielhaft die Verehrungstradition der sogenannten „14 Nothelfer“, allesamt orthodoxe Heilige des II. bis IV. Jahrhunderts, darunter der Hl. Pantelejmon, die Hl. Großmärtyrerin Katherina und der Hl. Nikolaus von Myra, um nur einige der bekannten zu nennen. Hinzu kommen bis zum Ende des 1. Jahrtausends n. Chr. Missionare, Klostergründer und Ortsheilige mit römischen, byzantinischen, syrischen, alanischen, irischen und slawischen Wurzeln.

HEILIGKEIT IN DER ORTHODOXEN SPIRITUALITÄT.

Sprechen wir in der orthodoxen Kirche über Heiligkeit, begeben wir uns – wie alle hier Anwesenden bezeugen können – ins Zentrum des Lebens der Kirche als „der neuen Schöpfung“.  Sie zu verstehen, ist ohne die Tradition des Hesychasmus, die Erfahrung des Herzensgebets und der Theologie des Hl. Gregorios Palamas kaum möglich. Denn diese orthodoxe Tradition charakterisiert jene Personen als Heilige, die zur Vergöttlichung gelangt sind und dies in der Geschichte mannigfach bezeugen. Kirche ist der Leib Christi – die Gemeinschaft der Heiligung und der Vergöttlichung in der „Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes… zum Altersmaß der Fülle Christi“ (Epheser 4,12-13).

Die wirklichen Heiligen sind also diejenigen die in der lebendigen Gemeinschaft mit Gott stehen, für die nach dem Hl. Apostel Paulus gilt: „Ich lebe, doch nicht mehr als Ich, sondern Christus lebt in mir“ (Galater 2,20). Heiligkeit ist kein moralisches, sondern ein ontologisches Geschehen, als Wandel der Natur und der ganzen Existenz des Menschen der Gnade Gottes nach. (Erzpr. Georgios Metallinos, Leben im Leibe Christi S.52-53).

Christus verehren wir als Gottmensch. Unsere kirchliche Ehrung der Heiligen besitzt darüber den Charakter der Verehrung, eben weil die Heiligen zum Leib Christi geworden sind, als vergöttlichte Menschen, ungeschaffen und Gott ähnlich der Gnade, nicht der Natur nach (ders.): „Ehren wir die Heiligen, damit diese Ehrung zu Gott aufsteigt“ (Hl. Hieronymos, Briefe 109,1).

 Alle Heiligsprechungen der letzten Jahrzehnte in der orthodoxen Kirche folgen in der Praxis folgenden kanonischen Voraussetzungen für die Verherrlichung:

  1. Unbefleckte Orthodoxie (die heilige und orthodoxe Taufe, konziliares Bekenntnis und Lehre, die Erlangung aller Tugenden)
  2. Das Martyrium für den christlichen Glauben und/oder:
    Große außerordentliche Verdienste um die christliche Kirche
  3. Das Wirken übernatürlicher Zeichen und Wunder von Gott

Die offizielle Heiligsprechung der Orthodoxen Kirche bedeutet also nicht irgendeine Ehrbezeugung oder Belohnung für besondere Verdienste; es handelt sich um die Bestätigung der Verwirklichung der Vergöttlichung (Erzpr. Georgios Metallinos, Leben im Leibe Christi S.58) nach den Worten des Apostels Paulus “Denn nicht der ist bewährt, der sich selbst empfiehlt, sondern der, den der Herr empfiehlt“ (2. Korinther 10,18).

Was bedeuten diese Grundlagen nun für unser heutiges Thema?

DAS FILIOQUE UND DAS KONZIL VON AACHEN (809).

Unter Karl dem Großen (747 – 814), dem Aufstieg der Franken zum Kaiserreich, der Zwangsmissionierung der Sachsen und der Unterwerfung der Bayern und Westslawen kam es im Jahr 809 n. Chr. zur quasistaatlichen Durchsetzung des „filioque“, einer bis dahin in Abgrenzung zu den Arianern in Spanien und Frankreich benutzten eher doxologischen Bekenntnisformel. Mit dem Aachener Konzil von 809 wird das „filioque“ jedoch nicht nur zum gepolitischen, sondern in erster Linie zur liturgischen und dogmatischen Forderung. Sie steht im direkten Widerspruch zur Lehre Christi selbst, zum Text des Evangeliums und der Apostellehre. Sie markiert einen Bruch zu den Konzilien von Nicäa und Konstantinopel, indem sie fälschlich den Ausgang Gott des Hl. Geistes (der 3. Person der Hl. Trinität) auch von Gott-Sohn, nicht ausschließlich von Gott Vater bekennt.

Damit ist für uns mit dem beginnenden 9. Jahrhundert ein Paradigmenwechsel in der Theologie und im Bekenntnis im Christentum des Römischen Reichs Deutscher Nation festzustellen, welcher zum „Stimmstein“ für kommende Generationen im Westen wird. Denn das häretische Bekennen des „filioque“ verschlösse nach dem Zeugnis der Hll. Väter seinen Anhängern den Weg zur Heiligung und zur Verherrlichung: aufgrund seiner Befleckung von Katholizität (Bruch mit der Gesamtkirche) und Orthodoxie (Bruch mit der Lehre und der rechten Verherrlichung Gottes).

Dennoch bleibt die Situation noch ca. 200 Jahre offen. Denn die filioque-Formel bleibt zwar auch nach dem Tode Karls als quasi-staatlicher Rechtsakt bestehen, wurde aber bereits von Papst Leo (†816) als Häresie erkannt und abgelehnt, samt den bis heute erhaltenen filioque-Gutachten der Herren Arn von Salzburg, Abt Smaragd von St. Michael, Abt Theodulf von Orléans, Bischof Heito von Basel und Bischof Adalwin von Regensburg – um einige der heute meist unbekannten Häretiker zu benennen.

Erst Papst Benedikt VIII. (ab 1012) setzt zusammen mit dem Kaiser Heinrich II. in mehreren Synoden das filioque auch als Glaubensbekenntnis in seinem römisch-katholischen Herrschaftsraum durch. Der dogmatische Paradigmenwechsel ist vollzogen, die Trennung von der Einen Kirche, der Trinitätslehre des Evangeliums und den Konzilien wird öffentlich und zwingend. Es vergehen noch einige Jahrzehnte – doch schließlich muss 1054 die Orthodoxe Kirche den Bruch und die Abtrennung Roms von der katholischen panorthodoxen Einheit realisieren.

Die dunklen Wolken, die sich seit 809 über Westeuropa zusammenzogen, haben seit 1012 den Himmel über Deutschland „verschlossen“. Die in Aachen geschlagene Wunde am Leib Christi wird somit spätestens ab 1014 n. Chr. zur papistisch konstituierten Norm und somit offizielle häretische Lehre. Die endgültige theologische Selbstamputation Roms von der Einen, Heiligen und Apostolischen Kirche im Jahr 1054 wird zum Schicksalsereignis für ein ganzes Jahrtausend deutscher Geschichte.

Unter kanonistischen Aspekten der Heiligenverehrung ließe sich deuten, dass bis zum Ende des 8. Jahrhunderts eine Verherrlichung von deutschen Heiligen dogmatisch – die entsprechende Prüfung vorausgesetzt – auch in ihrer vorgesehenen Gesamtheit zulässig ist. Die Epoche von 809 – 1012 n. Chr. mit ihrer spezifischen Parallelität von wechselnder staatlicher häretischer Einmischung und kirchlichem Lehrwiderstand verlangt eine nochmalige strenge Einzelprüfung. Die bittere Logik lautet: ab 1014 – 1054 gäbe es per se keine orthodoxen, katholischen und apostolischen Heiligen mehr auf deutschem Boden mehr unter der Fürstenherrschaft des „römisch-katholischen“ Vatikans.

REFORMATION UND LUTHERTUM (ab 1518 n. Chr).

Zu einer weiteren Verschärfung und Apostasie von der kirchlichen Orthodoxie und Katholizität kam es mit der Reformation, einer religiösen Revolution auf deutschem Boden gegen die kirchenrechtlichen, pastoralen und theologischen Prinzipien Roms. Zum Opfer der Reformation wurden auch die bis dahin noch verehrten Heiligen.

In seinem Bemühen, jede päpstliche (sprich menschliche) Autorität zwischen Gott und Mensch als Mittler zum Heil nieder zu reißen, wandte Martin Luther mit Recht ein, kein Mensch könne ohne Sünde sein.  In römisch katholischer Praxis sozialisiert, warnte er vor der Gefahr der Heiligenanbetung, die angeblich den eigentlichen Glauben an Jesus Christus als den einzigen Mittler zwischen den Menschen und Gott verdecke, sich auf den Apostel berufend: „Es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung“ (1. Timotheus 2,3). Luther schloss eine Mittlerfunktion der Heiligen daher kategorisch aus – hielt es aber dennoch für ganz nützlich, der Heiligen zu gedenken. Im Augsburger Bekenntnis heißt es dazu: „Vom Heiligendienst wird von den unseren so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist“ (Artikel 21).

Ungeachtet aller auch hier von Luther vollzogenen Verkürzungen des Evangeliums und der Tradition, kommt es einerseits zu einer „Duldung der Heiligen“ im Gedenken, zugleich aber zu einer kanonischen und ekklesiologischen Fehlstellung, die letztlich die Heiligen bestenfalls als ethische und moralische Vorbilder und Gnadenträger an der Erde festkettet. Ihre Bedeutung als lebendige Christusträger und Gottesmenschen im Heiligen Geist wird weder erkannt noch bewahrt.

EVANGELISCHE ABSPALTUNGEN.

Die folgenden Abspaltungen in der Römischen Kirche vertiefen diesen Prozess. Nach den lutherisch Reformierten sind es die ehemaligen Bündnisgenossen Johannes Calvin und Ulrich Zwingli, welche einen weiteren reformatorischen Kampf losbrechen. Im Zuge ihrer Lehrverschärfungen lehnten sie die Heiligenverehrung grundsätzlich ab, hielten sie sogar für Teufelswerk und gingen als fanatische Ikonoklasten davon aus, dass sie gegen das alttestamentliche Bilderverbot verstoße.

Während Katholiken also weiter glaubten, dass die Heiligen vor Gott Fürsprache für die Menschen halten und durch ihr vorbildhaftes Leben zudem einen Schatz an guten Taten anlegen, auf den die Kirche etwa zurückgreift, wenn sie „Ablässe“ erteilt, sind Heilige für lutherische Protestanten allenfalls vorbildhafte Menschen. Als Fürsprecher jedenfalls brauchen evangelische Christen sie nicht, denn „wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist“ (1. Johannes 2,1). Der Himmel über Deutschland bleibt verschlossen.

DER DREISSIG-JÄHRIGE KRIEG.

Der Himmel bleibt verschlossen – schlimmer: mit dem 30-jährigen Krieg (bis 1648) öffnen sich auf deutschem Boden die Pforten der Hölle. Die dramatischen geistigen und existenziellen Folgen dieser Religionskriege repräsentieren in der darstellenden Kunst jener Epoche die apokalyptischen Reiter.

Magdeburg im 30-jährigen Krieg

Je nach Landesteil werden zwischen 40% und 70% der deutschen Bevölkerung durch Krieg, Hunger, Progrome und Seuchen ausgerottet. Reformation, Katholische Gegenreformation, römischer Katholizismus und evangelische Religion erweisen sich als machtlos angesichts dieses grauenhaften Ausbruchs staatlicher, finanzieller und politischer Interessen, menschlichen Sünden und Leidenschaften – ein bis in unsere Zeit nachwirkendes Trauma.

VATICANUM I und II.

Die Jahrhunderte der antikatholisch motivierten Aufklärung (Frankreich), des Freimaurertums (England), der Liberalisierung und Säkularisierung prägen sowohl Europa wie auch die deutsche Bevölkerung. Die späten Versuche des Papsttums, zuerst während des I. Vatikanischen Konzils 1869-1870 und später im II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) gegenzusteuern, sind nicht vom erhofften Erfolg gekrönt.

Schon das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes, dessen Gegner v.a. die deutschen Bischöfe und Kirchenhistoriker waren, führt zu einer neuen Welle religiöser Entfremdung im Deutschen Reich. Es ist von besonderer Tragik und im (erkrankten) Wesen Roms logisch, dass die erste und lange Zeit letzte „ex cathedra“ Entscheidung nach dem Vatikan I. das Zentrum der orthodoxen Soteriologie und Ekklesiologie der Heiligenverehrung trifft. Im Jahr 1848 erfolgt die päpstliche Dogmen-Verkündung der „unbefleckten“ Empfängnis der Gottesmutter durch die Hll. Joachim und Anna (lat. immaculata conceptio: gemeint ist: frei von Erbsünde).

 Wird Rom mit dem Vatikan I auf deutschem Boden zu einer Quelle neuer Häresien insbesondere im Gegensatz zum V. und VI. Ökumenischen Konzil – hinsichtlich dem Wesen der menschlichen Natur Christi, der Kirche als Leib Christi, der Heiligenverehrung und unserer Errettung, so steht Vatikan II hundert Jahre später für die Anpassung an den Zeitgeist und zahlreiche Aufweichungen theologischer Natur.

Man sieht gleichsam Martin Luther im Petersdom predigen, wenn man liest, dass  Sinn und Ziel der Heiligenverehrung nach Vatikanum II: „Beispiel und Antrieb für uns sei, in allen Wechselfällen des Lebens die Einheit der ganzen Kirche zu erfahren und einzuüben und so zu Christus als der Krone aller Heiligen zu gelangen“.

Die Folgen im katholischen Lebensraum sind verheerend. Neue Kirchenspaltungen, säkulare Theologien, Verarmungen des Gottesdienstes mit allen damit verbundenen negativen Auswirkungen auf Kultur, Kunst und Alltag. „Die Fülle der Zeiten“ in Christus wurde vereinzelt und zerrissen, und mit ihr treten die Heiligen und ihre Verehrung immer mehr zurück.

WELTKRIEG I und II.

War der erste Weltkrieg (ab 1914) in seiner fundamentalen religiösen und ethischen Erschütterung der christlichen Konfessionen, Universitäten und Traditionen in Deutschland und der deutschen Kriegsgenerationen gleichsam eine düstere Auferstehung des 30-jährigen Krieges – so kann der Ausbruch des zweiten, des „Großen“ (russ.) Weltkriegs (1939/1941) nur als das vollkommene Scheitern aller christlichen Kräfte zu einer geistigen Erneuerung beschrieben werden.

Alle Versuche gegenzusteuern, sei es protestantischer Theologen (Karl Barth), katholischer Kirchenhistoriker (Josef Wittig), Schriftsteller (Selma Lagerlöf, Erich Maria Remarque, Carl Zuckmayer), Philosophen (Franz Rosenzweig) oder Soziologen (Eugen Rosenstock-Huessy), die nicht zuletzt durch Übersetzungen orthodoxer Autoren erstmalig mit einer neuen („ostkirchlichen“) Theorie der Erkenntnis und Soteriologie konfrontiert werden – bleiben wirkungslos. 

VERANTWORTUNG IN DER DIASPORA UND IN DER HEIMAT.

Über das Mysterium, dass in Folge von Revolution (1917) und Weltkrieg (1914 – 1945) Millionen von russischen (und serbischen) Emigranten, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen in ganz Deutschland Kirchen errichten, Gottesdienste feiern, Klöster gründen und seit dieser Zeit wieder „flächendeckend“, täglich und konziliar – auch zu allen Heiligen – beten für „diese Stadt, dieses Dorf, dieses Land, die es regieren und beschützen“, ist sicher noch gesondert nachzudenken. Beispielhaft für alle diese Generationen muss an das Wirken des Hl. Johann (Maximovic) von Shanghaj, das Leiden des Hl. Nikolaj (Velimirovic) im KZ Dachau und des Opfers des Hl. Alexander Schmorell von München erinnert werden.

Mit den orthodoxen Heiligen und Märtyrern und der orthodoxen kirchlichen Heiligenverehrung kamen auch die Wunder Gottes – in unzählbaren Ereignissen – nach Deutschland zurück. Wundertätige und myronspendende Ikonen der Gottesmutter werden seitdem in deutschen Städten verehrt, die Reliquien der Heiligen bezeugen die mystische reale Präsenz aller Heiligen, Kranke werden geheilt, Kinder gerettet und zahlreiche segensreiche Wirkungen Gottes im Alltag der Gläubigen – auch nichtorthodoxer – erlebt.

Und seit Generationen bezeugen auch ursprünglich ungläubige oder nichtorthodoxe Deutsche die Einwirkung Gottes in ihrem Leben, in ihrer Bekehrung und Taufe. Ja sogar bis hin zu ihrer Bischofs-, Priester- oder Mönchsweihe. Erinnert sei als Beispiel das Leben des hochwürdigen Erzpriesters Ambrosius Backhaus (1923 – 2005), dem der russische Christus in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft erschienen war und der erfüllt mit der Liebe zu Russland und der Orthodoxie in seine Heimatstadt Hamburg zurückkehrte, und sein Leben fortan als Arzt und Priester der Kirche und den Kranken und Notleidenden widmete. Nicht zufällig diente er in der Kirche des Hl. Prokopij von Ustjug und Lübeck (†1303), eines Lübecker Kaufmannssohnes und russischen orthodoxen Narren in Christus.

Heute im 21. Jahrhundert ist für die meisten russischen orthodoxen Geistlichen und Laien Deutschland zur neuen Heimat geworden. Anders als die Emigration der 1. oder 2. Generation sehen sie – dank der göttlichen Vorsehung – ihre Zukunft und die ihrer Kinder auch in diesem Land. Viele haben deutsche Ehepartner und nicht wenige von ihnen verkirchlichen mit der Zeit in der Orthodoxie. Diese Verantwortung gegenüber dem Nächsten und sich selbst, in der eigenen geistigen Arbeit, in Lehre und Bekenntnis, in der inneren und äußeren Mission kann und wird ohne himmlischen Beistand nicht gelingen. Dessen sind sich alle orthodoxen Gläubigen bewusst.

Denn das hypostatische Wesen der Hl. Dreiheit offenbart real sich in der Liebe Gottes zu uns Sündern, in der Liebe untereinander und in der Liebe zu unserer gottebenbildlichen Seele. Christus und seine Kirche im Leib ihrer Heiligen bezeugen im Großen und im Kleinen, dass wir „ohne Ihn nichts tun“ können. Diesen Gottmenschlichen Beistand durchlebt jeder Gläubige in den einfachsten Dingen des Alltags. Ihn zu erbitten hat uns Christus mit dem „Vater unser“ zugrunde und an den Anfang gelegt. Dieses geistige Ringen um die Liebe – in allen Aspekten des Lebens, im Gebet, in der Diakonie, in der Erziehung und im Studium – um Heiligung und Beistand, um Gemeinschaft und Schutz bildet den Atem der kirchlichen Gemeinschaft ab, sei es in der Kirchengemeinde oder in der Familie.

Alle Heiligen von der Gottesmutter an haben in ihren Taten, ihrer Askese oder in ihrem Martyrium dank der Gnade Gottes Christus verherrlicht. Und nicht einer der Heiligen auf germanischem oder deutschem Boden hat sich selbst aus diesem panorthodoxen Himmel ausgeschlossen! Das waren wir Menschen.

Es bedarf heute unserer christlichen Liebe und des konziliaren bischöflichen Segens der Russischen Orthodoxen Kirche, um diesen Heiligen nunmehr unsererseits die Ehre zu geben und sie zu verherrlichen, zum Segen aller orthodoxen Gläubigen und der Panorthodoxie in Deutschland und des Volkes, das hier lebt.

Denn ohne unsere Verehrung und Verherrlichung und ohne ihre heilige Zuständigkeit und Fürbitten wird der Himmel über Deutschland weiter verschlossen bleiben.

Berlin, 11.09.2019

am Gedenktag der Enthauptung des Hl. Johannes des Täufers

(Entschlafen S.E. Erbischof Feofan, †2017)

Porträtfoto von Vater Andrej Sikojew

Andrè Sikojev

Erzpriester der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland


Hier können Sie den Vortrag als PDF herunterladen:


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