(1887 | 150 S.)
Cornelia:
Ebner-Eschenbach, Marie von, 1830-1916: So wie die Droste eine Generation nach Bettina, so kommt Marie eine nach der Droste. Alle drei wurden sehr sorgfältig erzogen, und wie die Droste blieb Marie kinderlos, obwohl sie wie Bettine verheiratet war. Hier nun in Mähren und Österreich ist der Adel international politisch vernetzt, und Marie profitiert von dieser freien Überblicksposition. Und ganz anders als bei der Droste, aber wie bei Bettine, wird die literarische Begabung erkannt und gefördert. Wie die Droste mag sie kleine Sachen und macht sogar eine Lehre als Uhrenbauer, gewinnt dann aber ein klares Profil als soziale Schriftstellerin, die gegen gängige Vorurteile kämpfte.
Meine Klassiker Ausgabe enthält zwei Bände „Aus Spätherbsttagen“. Die sind gemischt. Aber es lohnt sich, immer mal wieder mehr von ihr zu lesen.
Meinung
Ich hatte mich mit den gemischten Sachen, die ich von ihr in meinem Bücherschrank habe, nicht abfinden wollen und mir das gepriesene Hauptwerk: Das Gemeindekind, im Reklam-Format bestellt. Und das ist ein Fund. Große Literatur und unbedingt zu lesen. Zwar im ersten Drittel konnte ich die Quälerei des armen Pavel kaum ertragen, und ich fühlte mich zu Gerhard Hauptmanns Schwelgerei im Grauen zurückversetzt. Aber dann nimmt die Sache Fahrt auf: Der barmherzige Lehrer bleibt dran und die bösen Gegenkräfte erschlaffen. Schwesterchen Milada betet im Kloster fleissig, und endlich kann er sie mal besuchen. Das geht zunächst schlecht aus, weil beide zueinander wollen, aber Pavel schöpft beim zweiten Besuch Hoffnung und hat ein Ziel: der Zuchthaus-Mutter ein Heim zu schaffen.
Es ist tief erschütternd, wie schwer diesem von allen guten Geistern verlassenen Jungen der Aufstieg in ein geachtetes Leben gemacht wird. Es ist kaum erträglich diese Bosheit und Unbarmherzigkeit im Dorf, und die Feigheit derer, die es besser wissen sollten. Schön die Baronin, die noch ein wenig Feudal-Leben aufrechterhält und selbstkritisch ihre Aggressionen korrigiert. Da spricht die Ebner aus eigener Erfahrung, und das ist höchst individuell.
Natürlich muß man an dem Katholizismus, der hier diskret vorgeführt wird, vieles aussetzen. Zuallererst die Mutter: In falsch verstandener Treuepflicht ihrem raubmörderischen Ehemann gegenüber hat sie durch ihre Verurteilung die Kinder ins Elend geschickt. Das hätte bei uns kein Priester gesegnet. Und dann der lieblose Dorfpriester. Und ganz arg das Klosterleben der kleinen Milada, die gelernt hat, daß sie durch superrogatorische Heldentaten ihre Eltern aus der Hölle rausgebetet kriegt, und den Bruder auch. Sowas haben wir zwar auch in der Heiligen Xenia, – aber da ist es ein eigener reifer Entschluß, nicht die Fremdbestimmung durch ein Nonnengeschwader. Zwar ist ihr Tod nicht eingeplant, vielmehr soll sie im Metochion bei der Baronin Oberin werden. Aber keiner hat so recht hingeguckt, wie sie „an zwei Enden brennt“. Nur der Bruder hat’s gesehen – und ist machtlos.
Egal. Anders als die Judenbuche, bei der die Milieu-Schilderung den Schaden unabwendbar macht, ist hier doch die Freiheit bewahrt, und der Junge kann kämpfen. Ein wahres Heldentum an Selbstüberwindung und Vergebung – und am Ende der Sieg. Das ist großartig. Werde mehr von ihr lesen.
JG+
Info
Erscheinungsjahr | 19. Jh., 2. Hälfte |
Seiten | 100-300 |
Autor | Ebner-Eschenbach, Marie von |
Kommentar zu: Ebner-Eschenbach, Marie von – Das Gemeindekind.