Goethe, Johann Wolfgang von – Wilhelm Meister

(1795/1807 | 600 + 500 S.)

Wilhelm Meisters Lehrjahre ist ein klassischer Bildungsroman von Johann Wolfgang von Goethe. Der wegweisende Entwicklungsroman erschien 1795/96. Er besteht aus acht Büchern, von denen sich die ersten fünf inhaltlich an das zu Goethes Lebzeiten unveröffentlichte Fragment Wilhelm Meisters theatralische Sendung anlehnen. Wikipedia

Meinung

Cornelia meint:

Lehrjahre 1795-96

Ich kann gar nicht sagen, wie ich nach all dem kleindramatischen Oberschrott aufgeatmet habe, als ich dieses Buch begann. Vom ersten Moment hat es mich verzaubert und begeistert. Ja, hier merkt man endlich dass Goethe ein Klassiker ist und mit Grund. Das ist so groß und herrlich, man kann sich kaum lösen.

Inzwischen bin ich ihm ins Theaterleben gefolgt, und auf der Reise fand ich schon, dass ein paar zu viele ideal schöne reine wunderbare Gräfinnen an den Weg gestreut wurden. Ich bin fasziniert von der androgynen Mignon (die allerdings gerade zum Mädchen wird) aber durch mangelnde Erziehung schwer behindert. Sie erinnert mich an ein zigeunerndes Knabenmädchen bei Eichendorff, – man kann so was heut nicht mehr so ganz unbefangen genießen, nachdem die Gräuel der Pädophilie so in den Vordergrund getreten sind. Interessant ist, dass auf den Reisen nicht viel Natur vorkommt, grad so viel, wie den Menschen entweder durchnässt oder zum seligen Singen bringt. Die wahren Landschaften sind die Gemüter der Menschen, zu denen der junge Wilhelm wegen seiner empathischen Begabung überall mühelos Zugang findet. Überall wird er hineingezogen und versucht zu helfen.

Im Mittelpunkt steht natürlich die Kunst, und die wird nach allen Regeln der Kunst „durchgenommen“, stets natürlich szenisch aufbereitet. Das ist ein hohes Vergnügen, und man hat hier alles kondensiert und zusammengefügt, was man sonst in langweiligen Büchern verwurstet findet. Schön auch die Shakespeare-Leidenschaft, zum Hamlet unbedingt nochmal hinzuziehen.

Und dann soll, neben Milieustudien aus dem Bürgertum (Herrlich Freund Werners Verteidigung des Handels!), dem Hochadel (herrlich das Chaos innen und außen in den Schlössern) und der Zwischenwelt des fahrenden Volks (hier ist schon alles angelegt, was den Prolog im Faust so aufregend macht), der Junge auch erwachsen werden, und irgendwie, umgeben von Freundschaften und Liebschaften, klappt das auch. Anfangs steht der Autor dem kindlichen Selbst noch ziemlich ironisch-unbarmherzig zur Seite, alle Kleinlichkeiten der jungen Seele getreulich ausleuchtend, aber allmählich nimmt er in seinem gedichteten Ebenbild Platz, bleibt zwar weiterhin der hart diagnostizierende Erzähler, aber mit mehr Verständnis und Mitgefühl.

Das einzige, was stört, sind die unablässigen dramatischen Ereignisse. Irgendjemand hat gesagt Goethe arbeite als Dramatiker episch und als Epiker dramatisch. Stimmt. Man holpert also von einer Krach-Bum-Szene zur nächsten.

Im fünften Buch eine wunderbare Auseinandersetzung über Hamlet und seine Aufführbarkeit, dazu großartige Darstellung des Unterschiedes von Drama und Roman, und wieder viel Lehrreiches über die Kunst in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit. Über die Berufung des Edelmanns zu untadeliger Ganzheitlichkeit, die des Bürgers zur Brauchbarkeit, wobei eine Ganzheit der Person nie zu haben ist, – außer halt durch die Kunst, und so wird die Kunst zum wahren Medium einer Humanität, die über die Vornehmheit des Edelmanns noch hinausgeht. Hier übernimmt die Kunst die Rolle, die bei uns die Kirche spielt.

Oder genauer: im Goetheschen Kunst-Humanismus ist die Einzelperson das Idol, das es zu verehren, und das es in sich selbst zu erschaffen gilt. Dagegen bei uns: In Kirche und Kloster wird man zur Person, die Gott geschaffen haben wollte, genau dadurch, daß man sich das nicht mehr zum Ziel macht, sondern selbstlose Liebe lernt.

Und so ist im sechsten Buch das Bekenntnis der Schönen Seele zwar einerseits durchaus orthodox, wenn sie Christus in sich spüren lernt und dadurch von allen eitlen Vergnügungen sich löst, weil das mit Christus viel schöner ist, aber es geht ihr dabei – auch als Frau durchaus emanzipiert – immer nur um die innere Stimme, um das eigene Ich, in einer Weise, die mich an Maggie in Eliots Mühle am Fluss erinnert. In jedem Fall wird das Selbst dabei überlastet, und das ist das Drama der Moderne: dass sie den Menschen entkirchlicht und ihn auf die Ichigkeit wirft. Man merkt als Orthodoxer bei dieser Herrenhuther und sonstigen Frömmigkeit auch, dass selbst dann, wenn einem ein Blick in den Abgrund der eigenen Sündhaftigkeit geschenkt wird (wirklich eindrucksvoll, wie dies hier geschieht, es erinnert mich an St. Valeriu Gafencu im Gefängnis), man hinterher trotzdem nicht weiterkommt, wenn man nicht im Gehorsam lebt, sondern weiterhin immer machen kann, was man selber will. Erschreckend ist auch, dass sich die Menschenliebe dieser frommen Seele so eng auf die Verwandtschaft bezieht. Da kann Christus nicht eingetreten sein, in diese Seele, denn der würde das Herz weit machen.

Im Siebten Buch haben wir eine wunderbare Erklärung für die Würde des Weibes als Herrin des Haushalts, – ziemlich wie der Psalmist, – ach was, besser: Denn bei Goethe wird der Mann frei für den Staatsdienst, statt nur am Tor mit den anderen Männern zu klönen. Andererseits kann die Ideal-Würdenweib-Therese, und hier wird die Kunst-Diskussion radikal, mit Theater nichts anfangen. Genau wie unsere orthodoxen Väter mag sie diesen Vorschein einer erlogenen Wirklichkeit nicht. Ihre Leidenschaft fürs Ökonomische, andererseits, rehabilitiert Werners gegen Wilhelms vorgebrachte Arbeits-Ethos, bloß ist in beiden Fällen auch ein Wurm drin: beim Wiedersehen mit dem Freund im Schloss (denn, wie der Zufall es so will, hat auch Werner ein Auge auf die von Lothar geerbten Güter geworfen) und in der Begegnung mit der dort wandelnden geistig-moralischen Elite –(naja, bis auf die Mädels…) und  erscheint dabei zum gierigen Hypochonder geschrumpft, während Wilhelm sich seine Person zur vollen Blüte ausgebildet hat, und Thereses caritative Erziehung armer Mädchen plötzlich als eine Art von Drill kritisiert wird.

 Überhaupt geht es hier überall um Erziehung, und das auch noch im Kontext eines Ausflugs in die Freimaurerei, die, unter der Leitung eines nicht besonders christlichen Abbé, auf die Unterstützung aller Neigungen des Zöglings hinausläuft, damit er möglichst schnell aus seinen Fehlern lernt. Da hat Therese schon andere Vorstellungen. Aber hier verwickelt sich Goethe gegen Ende noch in so viel atemberaubende Verwirrspiele und  Liebesumstürze und auftauchende Onkel, Selbstmord, Liebestod, Entdeckungen, wie alle miteinander eigentlich immer schon irgendwie verknüpft und verknotet waren, dass dem Leser schwindelig wird und er einigermaßen verstimmt seine Belohnung durch eine Doppelheirat, womöglich Quadrupelhochzeit, wegseufzt. Unklar aber bleibt weiterhin vieles: Kriegt der Wilhelm jetzt neben dem Sohn, den er der ersten Liebe Marianne hinterlassen hat, vielleicht noch ein Kind aus jener Nacht, da Philine sich bei ihm einschlich? Wie verkraftet er den Verlust der Amazone (oder war das Therese? Oder Natalie?) Wie geht es Graf und Gräfin, nachdem durch Wilhelms Blödheit Graf sich dem Sterben nahe wähnt und die Herrenhuther Nachfolge antreten will?

Trotz allem muss man die Begegnung mit diesem Menschen im Vollsinne irdischer Menschlichkeit als großes Ereignis feiern. Man kann sowas nicht nicht lesen…

Jg

Wanderjahre 1807

Auch hier werden wir von einem Ereignis zur nächsten Geschichte über das nächste Ereignis weitergereicht. Hier steht nicht die Kunst im Mittelpunkt, sondern das strenge Handwerk, die Ökonomie und die Verwaltung von Herrschaft – all das immer vor dem Hintergrund der Sehnsucht nach Amerika, wo einer alles frisch von vorne gestaltbar sich erträumen mag. Irgendwie ist die quasi-freimaurerische Menschheitserhöhungsgesellschaft vom Vor-Buch weiterhin in Kraft und sammelt einen großen Auswanderertreck der besten, die dann in Amerika eine ideale Herrschaft neu aufbauen sollen. Zugleich gibt es Gegenkräfte zuhause, die dieselben Ideale vor Ort realisieren wollen, im Rahmen der politischen Gegebenheiten, die halt auch immer mal stören.

Wilhelm wurde von seiner Natalie plus jener Gesellschaft auf Wanderschaft geschickt, damit er was lernt und überall Gutes wirkt. Klappt auch prima, und Söhnchen Felix kommt in einer Landschulen-Kolonie unter, die höchste Idealität mit einer gewissen totalitären Beaufsichtigung verbindet. Kein Wunder, dass er am Ende ausreißt und als herrlicher Jüngling sich die hübsche Hersilie einfach mal so erobern will. Die aber kennt die Standesgrenzen und wirft ihn raus. Papa hat indessen tatsächlich überall Gutes getan und Menschen unter einer Himmels-agentin namens Makarie (die quasi das Sonnensystem im Blut hat und allerlei Weisheit sprudelt) zusammengeführt. Das ist fesselnd. Unglaublich viele Themen, von Pädagogik bis Moderne der Industriekultur, von privater und politischer Religion bis zur Kaufmanns-Würde, von aufgeklärtem Fürsten-Absolutismus bis in die Mystik der Bergwerk-Gesteinsforschung hinein, vom Makrokosmos im Menschen bis zu den Ambivalenzen der Wissenschaft, – alles was im Faust II etwas mythologisch eingekocht ist, findet sich hier höchst anregend dargelegt. Weitgehend hat Goethe es geschafft, sämliche Damen unter die Haube zu bringen, aber am Schluss franst es aus, und es bleiben noch ein paar übrig.

Ob der arme Wilhelm am Ende irgendwo seine Natalie in Amerika heiraten darf, bleibt völlig offen. Vielleicht ist Entsagung wirklich das einzig Bleibende. Insofern auch ein zutiefst verstörendes Buch, das viel Gelegenheit bietet, um das orthodoxe Lebensverständnis dagegen zu halten.  Als Bildungs-Erlebnis absolut unverzichtbar. Man sollte sich aber, wie bei Dostojewski, von Anfang an die Namen und Bezüge aufschreiben, damit man nicht immer wieder ins Rätselraten verfällt. Die Aphorismen mit Makariens Weisheit am Ende kann man sich sparen. Öfter lesen!!!

Jg

Info

Erscheinungsjahr19. Jh., 1. Hälfte
Seiten> 600
AutorGoethe, Johann Wolfgang von

Kommentare

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