Kettelhake, Silke – Erzähl allen, allen von mir – Libertas Schulze-Boysen

Meinung

Cornelia meint:

Sehr, sehr bewegend wirkt auf mich die Darstellung dieser Zeit, die meine Mutter viel ahnungsloser überstand. Viel vom Umkreis meiner Tante Ichen drin, über Buschmanns, Henselmanns weniger. Ich kann da eintauchen in die Lebenswelt der Studenten in Berlin. Die Amivalenz der Menschen in dieser Prüfungszeit. Die Autorin ist bewundernswert loyal gegenüber ihren Protagonisten. Und informiert, auch über die Vorbereitung des  Luftkriegs. Für unsere Kinder und Enkel ist das Familiengeschichte.

Bedenkenswert schon damals die gender issues: Die „Moderne“ wird kräftig gefeiert (natlürlich gegen BluBoBrauSi der Nazis). Zudem macht die Dramatik in der Politik Kinderkriegen für Widerständler unmöglich – und auch eine eheliche Zweisamkeit schwer. Schon Libertas‘ Mutter hatte einen Bürgerlichen geheiratet und geschieden. Das Mädchen wuchs auf ohne much impulse control, und so überstrapazierte sie das Prinzip ehelicher Toleranz, bis Harro eigene Wege ging. Der war für eine intensive Beziehung eh nicht eingerichtet, und dabei kam er mit Untreue doch nicht so gut zurecht wie gedacht. Das wars dann. Aber er selbst hatte sie auch weggedrückt, weil er sich auf den Kampf konzentrierte. Dass er aber zugleich Libertas, trotz ihrer Impulsivität, in seine Arbeit einbezog, war verantwortungslos.

Natürlich war er auch sich selbst gegenüber unvorsichtig genug. Kommunist, mit Illusionen über einen separaten deutschen Weg. Seine Mutter Marie-Luise, trotz all ihrer Fehler (Antisemitismus), hatte doch einen klaren Sinn dafür, wie Ehe gelingen kann. Von Libertas‘ Mutter kam da gar nix. Totales Machenlassen. Das Grundproblem, das diese Ehe ruinierte, war aber Libertas‘ Ehrgeiz: So wurde sie durch den, der sie hätte fördern sollen, verführbar. Im Grunde war sie in ihrer Selbstverliebtheit gefangen, die durch ihre großen Erfolge bei anderen nur noch bestärkt wurde. Sie muss aber auch bezaubernd gewesen sein. Schade um einen kostbaren Menschen, denn sie war was Besonderes: in ihrer Treue zur Ekel-Schwiegermutter, und in ihrer Bereitschaft, das Grauen zu sehen und zuzuhören. Warum konnte niemand ihr den Weg weisen, daraus eine ihr gemäße Aufgabe zu machen? Sie hat eine Dokumentation vorbereitet, – und die musste dann vernichtet werden.

Sie war nicht bereit, für ihre Widerstands-Arbeit zu sterben. Beide hätten sich vorbereitet halten müssen und sich bewusst sein, dass nur ein Selbstmord sie davor schützen konnte, andere mit reinzuziehen. Daß Libertas sich von ihren Verhörern reinlegen ließ – erschütternd.

Bei alledem hat sie versagt darin, ihre halbjüdische Kinderfrau zu schützen. Die Rote Kapelle hat sich auf Info-Weitergabe zur Beschleunigung des Untergangs konzentriert. Wäre sie erfolgreich gewesen im Ziel, Russland zum Sieg zu verhelfen, wären sie selbst allesamt in der Lubjanka geendet und hätten sich gewundert. Illusionen. Und über diesem politischen Fokus ging der persönliche unter. In so einer Situation kann man nur einzelnen helfen wollen. Auch war ja das berufliche Fortkommen, das bei Harro dem besseren Verrat dienen sollte und bei Libertas dem persönlichen Erfolg und der Sabotage auf Kulturebene, durch so viele Kompromisse erkauft, dass schon das die beiden innerlich kaputt gemacht hat.

Enorm, wie unkritisch man in Liebenau  (dem Heimat-Gut der Mutter) bei der Familie gegen Hitler war.

Tobias Engelsing schreibt ein Buch über seinen Vater, der als Filmproduzent zum Freundeskreis der Schulze-Boysen gehörte. Er hatte die Ehe mit meiner Tante Ichen als „Halbjüdin“ durchgesetzt bei Göbbels, der die Filmleute liebte. Als bester Freund meines Vaters brachte er auch meine Mutter da mit rein. Aber als Admiralstochter hat man ihr nicht gern vertraut. Kettelhake hat das Bodenseegrundstück der Engelsings zu ihrem Ferienhaus gestaltet. Sie wohnt also da, worüber sie schrieb. Bei einem kurzen Email-Austausch sprachen wir auch über Globke. Sie sieht ihn als Schutzgeist der alten Nazis unter Adenauer. Meine Mutter hielt den Kontakt zu ihm: Obwohl er bei den wilden Festen dabei war, hat er nie jemanden verraten. Obwohl Heide Hatteyer, wenn sie getrunken hatte, alles sagte. Meine Mutter glaubte ihm auch, dass er bei den Nürnberger Gesetzen in der Hoffnung mitmachte, Schlimmeres verhüten zu können. Es muss von seinem Sohn aus einer späteren Verbindung, Tobias Engelsing, ein Buch über Konstanz im Nationalsozialismus 2021 herauskommen, von dem ich mehr Hintergründe über das Leben meiner Eltern erhoffe.

 

Info

Erscheinungsjahr2008
Seiten540
AutorKettelhake, Silke

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