Der heilige Justin (Popović) über die grundlegende Glaubenswahrheit der Orthodoxen Kirche.

Der nachfolgende Aufsatz des damaligen Archimandriten Justin (Popović) wurde erstmals 1937 in der Zeitschrift Pastirski Glas („Stimme des Hirten“) publiziert. Die Veröffentlichung stützt sich auf den Abdruck der deutschen Version in „Der schmale Pfad“ Bd. 20, Juni 2007.



Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.
(Jh 14,6)

Alle Wahrheiten der Orthodoxie gehen hervor aus einer einzigen Wahrheit und führen hin zu einer einzigen Wahrheit, der unendlichen und ewigen Wahrheit. Diese Wahrheit ist der Gottmensch Christus. Wenn du irgendeine der Wahrheiten der Orthodoxie zur Gänze erfährst, wirst du unweigerlich erkennen, dass ihr Kern der Gottmensch Christus ist. Alle Wahrheiten der Orthodoxie sind tatsächlich nichts anderes als verschiedene Aspekte der einen Wahrheit – des Gottmenschen Christus.

Orthodoxie ist Orthodoxie aufgrund des Gottmenschen und von nichts anderem. Ein anderer Name für Orthodoxie ist deshalb: Gottmenschentum. Nichts in ihr existiert kraft des Menschen, aus dem Menschen, sondern alles kommt vom Gottmenschen und existiert kraft des Gottmenschen.

Warum ist der Gottmensch die Grundwahrheit der Orthodoxie? Weil Er alle Fragen beantwortet hat, die den menschlichen Geist quälen und bedrängen: die Frage von Leben und Tod, die Frage von Gut und Böse, die Frage von Himmel und Erde, die Frage von Wahrheit und Falschheit, die Frage von Liebe und Hass, die Frage von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Kurz: die Frage von Gott und Mensch.

Warum ist der Gottmensch die Grundwahrheit der Orthodoxie? Weil Er durch Sein Leben auf Erden auf offenkundigste Art bewiesen hat, dass Er die fleischgewordene, menschgewordene und persongewordene ewige Wahrheit ist, die ewige Gerechtigkeit, die ewige Liebe, die ewige Freude, die ewige Kraft. Die Wahrheit selbst, die Gerechtigkeit selbst, die Liebe selbst, die Freude selbst, die Kraft  selbst.

Heiliger Justin Popović
Heiliger Justin Popović

Nur durch den Gottmenschen vermag der Mensch die vollständige Wahrheit über den Menschen, über den Sinn und Zweck seines eigenen Daseins zu erkennen. Ohne Ihn wird der Mensch zum Phantom, zur Vogelscheuche, zu einer Absurdität. Ohne Ihn findest du bloß den Bodensatz eines Menschen, Bruchstücke eines Menschen, das Wrack eines Menschen. Echtes Menschsein ist möglich nur in der  Gottmenschlichkeit. Eine andere Art von Menschsein gibt es nicht unter dem Himmel.

Der Gottmensch brachte alle göttlichen Vollkommenheiten vom Himmel herab auf die Erde. Nicht nur brachte Er sie herab, Er lehrte sie uns auch und gab uns die gnadenerfüllte Kraft, sie zu unserem Leben zu machen, zu unserem Denken, unserem Fühlen, unserem Tun. Deshalb sind wir berufen, sie in uns selbst und in der Welt um uns zu inkarnieren.

Betrachten wir das Beste der besten Menschen des Menschengeschlechts. In allen von ihnen ist der Gottmensch das Beste, das Wichtigste, das Ewige. Denn Er ist die Heiligkeit der Heiligen, das Märtyrertum der Märtyrer, die Gerechtigkeit der Gerechten, die Apostolizität der Apostel, die Gutheit der Guten, die Barmherzigkeit der Barmherzigen, die Liebe der Liebenden.

Nur in Ihm, dem allerbarmenden Herrn Jesus, findet der von irdischen Tragödien gequälte Mensch den Gott, Der dem Leiden wahrhaft Sinn geben kann, den Tröster, Der ihn wahrhaft trösten kann in jeglichem Unglück und Leid, den Beschützer, Der ihn wahrhaft beschützen kann vor allem Bösen, den Retter, Der ihn wahrhaft retten kann aus Sünde und Tod, den Lehrer, Der ihn wahrhaft ewige Wahrheit und Gerechtigkeit lehren kann.

Er erhebt den Menschen zum Unendlichen. Er erhebt ihn zu Gott. Er macht ihn zum Gott der Gnade nach. Er erfüllt ihn mit allen göttlichen Vollkommenheiten. Der Gottmensch hat den Menschen mehr verherrlicht, als irgendetwas oder irgendwer es je zu tun vermöchte. Er hat ihm ewiges Leben geschenkt, ewige Wahrheit, ewige Liebe, ewige Gerechtigkeit, ewige Gutheit, ewige Segnung. Durch den Gottmenschen erlangt der Mensch göttliche Erhabenheit.

Während das Fundament der Orthodoxie der Gottmensch ist, ist das Fundament jeder Heterodoxie der Mensch, genauer gesagt Fragmente des Menschen – seine Vernunft, sein Wille, seine Sinne, seine Psyche, sein Leib, sein Sachwissen.

Der ganze Mensch ist der Heterodoxie unbekannt. Sie zerteilt ihn in Atome, Partikel. So wie „Kunst um der Kunst willen“ eine Absurdität ist, so ist es auch „der Mensch um des Menschen willen“. Dieser Weg führt zum erbärmlichsten Pandämonium, in welchem der Mensch der oberste Götze ist – und es gibt nirgends einen Götzen, der erbärmlicher wäre als er.

Die erste Wahrheit der Orthodoxie ist, dass der Mensch nicht um seiner selbst willen existiert, sondern um Gottes willen, genauer gesagt, um des Gottmenschen willen. Im Gottmenschen allein ist Begreifen des Menschseins möglich. In Ihm allein ist Rechtfertigung des menschlichen Daseins möglich. Alle Mysterien von Himmel und Erde sind enthalten in dieser Wahrheit, alle Werte aller Welten, die der Mensch betrachten kann, alle Freuden aller Vollkommenheiten, die der Mensch erlangen kann.

In der Orthodoxie ist der Gottmensch alles, sowohl mittelbar als auch unmittelbar, und so existiert der Mensch in Ihm. Doch in der Heterodoxie gibt es nur den Menschen.

In ihrem eigentlichen Wesen ist die Orthodoxie nichts anderes als die Person des Gottmenschen Christus, ausgedehnt über alle Zeiten, ausgedehnt als die Kirche. Die Orthodoxie hat ihr eigenes Siegel und Zeichen, durch das sie sich kennzeichnet. Es ist die strahlende Person des Gottmenschen Jesus.

Alles was diese Person nicht hat, ist nicht orthodox. Alles was die Gerechtigkeit, Wahrheit, Liebe und Ewigkeit des Gottmenschen nicht hat, ist nicht orthodox. Jeder Versuch, das Evangelium des Gottmenschen in dieser Welt zu verwirklichen durch die Methoden dieser Welt, durch die Methoden der Reiche dieser Welt, ist nicht orthodox, sondern bedeutet Verfall an die dritte Versuchung des Teufels (s. Mt 4,8).

Orthodox sein bedeutet, den Gottmenschen unablässig in deiner Seele zu tragen, in Ihm zu leben, in Ihm zu fühlen, in Ihm zu handeln. Mit anderen Worten, orthodox sein bedeutet, Christus-Träger und Geist-Träger zu sein. Ein Mensch erlangt dies, wenn im Leib Christi, der Kirche, sein ganzes Wesen, von oben bis unten, erfüllt  wird mit dem Gottmenschen Christus. Deshalb ist der orthodoxe Mensch mit Christus in Gott verborgen (Kol 3,1-3).

Der Gottmensch ist die Achse aller Welten, von der Welt des Atoms bis zur Welt der Cherubim. Jedes Geschöpf, das abbricht von dieser Achse, stürzt in Schrecken, in Qual, in Todesangst. Luzifer brach ab – und wurde Satan. Engel brachen ab – und wurden Dämonen. Der Mensch brach weitgehend ab – und wurde unmenschlich (ein Nicht-Mensch).

Alles Geschöpfliche, das abbricht davon, stürzt unweigerlich in Chaos und Leid. Wenn ein Volk als Ganzes den Gottmenschen verleugnet, wird seine Geschichte zu einer Wanderung durch Hölle und Horror.

Der Gottmensch ist nicht nur die Grundwahrheit der Orthodoxie, sondern auch ihre Kraft und Allmacht, denn Er allein rettet den Menschen vom Tod, von der Sünde und vom Teufel.

Kein Mensch, wer immer er sei, noch auch die Menschheit als ganze vermochte und vermöchte dies je zu tun. Des Menschen Kampf gegen Tod, Sünde und den Teufel führt stets zur Niederlage, es sei denn, er wird vom Gottmenschen geführt. Nur durch den Gottmenschen Christus vermag der Mensch Tod, Sünde und den Teufel zu besiegen.

Deshalb ist die Bestimmung des Menschen: sich selbst zu füllen mit dem Gottmenschen in Dessen Leib, der Orthodoxen Kirche; transfiguriert zu werden in Ihm durch Großtaten christlicher Askese kraft  der Gnade; mächtig zu werden zu allem Guten, so dass er, während er leibhaftig durch diesen traurigen irdischen Ameisenhaufen wandert, in seiner Seele oben lebt, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt, und sein Leben durch das Gebet unablässig ausspannt zwischen Erde und Himmel, wie ein Regenbogen, der den Gipfel der Himmel verbindet mit dem Abgrund der Erde.

Unsterblich zu werden in Ihm durch die Macht des Heiligen Geistes, eins zu werden mit Gott, mit dem Gottmenschen – das ist die Bestimmung, die wahre Bestimmung des gesamten Menschengeschlechts. Es ist auch die Freude, die einzige wahre Freude in dieser Welt grenzenlosen Leids und vergiftender Bitterkeit.

Orthodoxie ist das, was sie ist, durch den Gottmenschen. Und indem wir Orthodoxen den Gottmenschen bekennen, bekennen wir indirekt das Christus-Bild im Menschen, den göttlichen Ursprung des Menschen, die göttliche Bestimmung des Menschen und damit auch den göttlichen Wert und die Heiligkeit der menschlichen Person.

Der Kampf für den Gottmenschen ist tatsächlich der Kampf für den Menschen. Nicht die Humanisten, sondern das orthodoxe Volk mit seinem Glauben und Leben im Gottmenschen trägt den Kampf aus für den wahren Menschen, den Menschen nach dem Bilde Gottes, nach dem Bild Christi.


Texte des heiligen Justin zum Weiterlesen siehe Orthodoxe Bibliothek