Buchvorstellung „Die Philosophie des Kults“ von Vr. Pawel Florenski

DOM-Mitglied Hans-Peter A. hat die Neuerscheinung nicht nur gelesen, sondern vorher auch übersetzt, und beantwortet in seiner nachfolgenden Buchvorstellung (vorhersagbar) die Frage, ob es das spürbare zusätzliche Gewicht im Urlaubskoffer wert ist.

Pawel Florenski: Die Philosophie des Kults

Versuch einer orthodoxen Anthropodizee

536 Seiten︱Broschur︱32 €

„Einen Versuch“ nennt der Verfasser sein Werk, und dafür ist es ganz schön dick. Lohnt es sich?

Ein „Versuch“ ist es, weil der Kult für die russische Religionsphilosophie bis dato eher terra incognita war – wie will man umgehen mit dem Anspruch, das „Metaphysische“ mit Händen und Herzen zu ergreifen, das „Physische“ damit zu durchdringen, das zu vereinen, was die Mode streng geteilt hat? Aber für den russischen Priester und Gelehrten Pawel Florenski ist das Unvereinbare tägliches Brot, das Antinomische die Grundlage allen (geistlichen) Lebens, aller Liebe. Wo die Entropie ihr Werk schon verrichtet hat, hält er sich nicht lange auf.

Wenn sich deine Tage kraftlos dahinziehen, „ohne Gottheit, ohne Inspiration“, dann ist ein Liebeserweis ohne Wert.

Aber der Reihe nach: Das Ganze ist Manuskript einer Vorlesungsreihe, die F. im Jahr 1919 in Moskau gehalten hat. Die Dokumente in seinem Nachlass zeigen, dass er eine Buchausgabe plante und auch nach 1919 weiter dafür Material sammelte. Aufgrund der Lebensumstände konnte er sein Vorhaben jedoch nicht mehr realisieren. Veröffentlicht wurde der Text erstmals (zensiert) in den Siebzigern, viele Jahre nach seinem Märtyrertod 1937.

Zum Inhalt:

Vorlesung I: Die Gottesfurcht

F. definiert den Kult als denjenigen Teil der Realität, in dem Zeitliches und Ewiges sich begegnen. Die Furcht vor dieser Begegnung ist natürlich – alles andere wäre Anmaßung. Ein ausführlicher Exkurs in dieser Vorlesung widmet sich dem Kreuz als Symbol und Typos – es ist DAS Beispiel schlechthin für die Berührung von Unten und Oben, von Holz und Herrn. Danach geht es unter dem nämlichen Aspekt der Gottesfurcht um Opfer: um das alltägliche Blutbad am früheren Jerusalemer Opferaltar (Ariel faucht, Expressionismus pur!) und um die gebotene ebensolche Furcht auch gegenüber dem unblutigen, eher impressionistischen Opfer in der Eucharistie.

Vorlesung II: Kult, Religion und Kultur

F. beschäftigt sich mit den ideologiebildenden Grundlagen der Gesellschaft, nämlich dem Verhältnis von materiellen (Instrumenta, I) und geistigen (Notiones, N) Produkten menschlicher Schöpferkraft, sowie deren Synthese, sozusagen geheiligter Materie, inkarnierter Heiligkeit (Sacra, S). Erstaunlich, was F. aus den verschiedenen denkbaren Hierarchien von S-I-N alles ableitet. Nach den Zeitaltern von Idealismus und Materialismus erhoffte sich F. den Anbruch einer sakralen Ära (übrigens mit überraschender Beweisführung mittels der englischen und französischen soziologischen Schule).

Vorlesung III: Kult und Philosophie

Eine erfrischend persönliche Auseinandersetzung mit dem „Philosophen des Protestantismus“ Kant, dem „Gegenstück zu Platon“ und Verderber aller Kategorien, wenn man F. glauben will (und die Polemik ist so symphatisch, dass man es gerne tut). Ein Hohelied auf platonische Weltsicht zugleich. An der Quelle aber steht der Kult, dessen „flüchtige Töchter“ sowohl Philosophie als auch Kultur letztlich sind.

Vorlesung IV: Sakramente und Riten

Hier ist es wieder, das Lob der Leidenschaftlichkeit aus der ersten Vorlesung: Kult ist höchste Sinngebung für die blinde, formlose „titanische“ Urkraft. Jede Halbherzigkeit verbietet sich, ist quälende Epoche, Tod. Am Ende aber steht die Vereinigung von Absolutem Sinn und Absolutem Sein – der Gottmensch. Doch: Ohne dass Blut vergossen wird, gibt es keine Erlösung (übrigens Hebr 9,22). Der Karfreitag ist der mystische Mittelpunkt aller Sakramente und der ihnen nachgeordneten rituellen Handlungen.

Vorlesung V: Die sieben Sakramente

Als Menschen sind wir nicht imstande, an dem Einen Übersakrament – dem Kreuzopfer – adäquat zu partizipieren. Daher entfaltet es sich in einem mysterialen Spektrum von sieben Sakramenten, die alle in innerer Dynamik (thetisch, antithetisch und synthetisch) miteinander verbunden sind. Sieben sind es und sollen es sein, F. liefert den schlüssigen Beweis im Anhang zu dieser Vorlesung. Das synthetischste von allen übrigens – die Ehe. (Und solche Perlen lässt F. dann einfach so im Raum stehen und beendet die Vorlesung … )

Vorlesung VI: Die Phänomenologie des Kults (ein Abriss)

Im Sakrament verbindet sich das Höchste mit dem Niederen, und dies geschieht nicht abrupt, sondern in schrittweiser Annäherung (für den Mathematiker: iterativ, in einem Grenzübergang). Denn wir würden Schaden nehmen ohne solche Schritte weg von der Welt, hin zum Heiligen, „denn ein Feuer ist es.“ F. nennt diese Annäherungen „Schalen“ des Sakraments, „Isolationsstufen“: Um sich dem Ewigen zu nahen, muss man aus dem Gewöhnlichen heraustreten, Schritt für Schritt, so gut es eben geht. Den unendlichen Rest des Weges kommt uns der Herr aus Gnade entgegen. So gut es eben geht, das heißt: die Kommunionsgebete, das Fasten, das Beichten, die Türen, die Türen!, die Altarstufen, Teppiche, Ikonostase, Kopf- und Altartücher, Priestergewänder, Waschungen … Man geht anders, bewusster zum Gottesdienst nach diesem Kapitel.

Vorlesung VII: Die Heiligung der Realität

Sakramente sind nur Gipfel von Eisbergen. Wo wir zum Beispiel überall Brot weihen und segnen … Ein langes Kapitel, wie von Wanja „aus dem heiligen Moskau“ Schmeljow verfasst, ein Galopp durch alle Bereiche der (damaligen, bäuerlichen) Realität und deren Heiligung durch unendlich viele Rituale, vom Zaren bis zum Ziehbrunnen – und beinahe ein Abgesang. The night they drove old dixie down wäre die passende Musik dazu. Aber nicht dazu hat F. es aufgeschrieben, sondern um das Feuer nicht verlöschen zu lassen! Ohne Inspiration ist ein Liebesbeweis ohne Wert

Vorlesung VIII: Zeugen

Das Problem des Thomas: Wir haben Sakramente, die niemand von Nicht-Sakramenten unterscheiden kann, wir haben einen umfassenden Ritus, der uns anzeigt, dass da etwas geheiligt wird – aber wer garantiert, dass es auch so ist? Doch, diese Garanten gibt es. Es sind die Martyrer. Eines der seltenen Worte mit zwei Wurzeln – mär oder mort, Zeuge oder Leidensdulder (F. neigt auch zu sprachwissenschaftlichen Exkursen). Das sind Menschen, die der Verleugnung des Glaubens den Tod vorgezogen haben – keine Religion hat so viele davon wie unsere. Sie hatten wie Thomas den Gottmenschen berührt oder standen in der Nachfolge Seiner Apostel und bezeugten uns mit ihrem Blut, dass es „so ist.“ (Auch F. hat sein Priesteramt nach der Revolution nie verleugnet, den Priesterrock getragen bis zum Schluss – bis titanische blinde Wut auch ihn erhöhte.)

Vorlesung IX: Das Gebet

Die letzte Vorlesung widmet F. der Frage, wodurch das Sakrament und jede Heiligung der Realität überhaupt bewirkt wird. Es ist dies das Gebet, die sakramentale oder rituelle Formel. F. betrachtet die einzelnen Bestandteile eines Gebets, geht auf das Anti-Gebet ein (den kirchlichen Bann, die Verfluchung des Bösen). Gebet ist das dem Menschen mögliche Höchstmaß an vernünftigem Gebrauch der Sprache. Es bringt letztlich den Menschen als Ganzes zum geistigen Opfer dar, es verwandelt uns durch die noetische/geistliche Erneuerung (Röm 12,2).

Dieser Schluss ist ganz auf Väterlinie, zwischendrin gibt es auch schon mal ein paar verstörende Abschnitte. F. hatte keine Hemmungen, mit theosophischen Begrifflichkeiten zu operieren; manches klingt manichäisch, und auch einige Aussagen zum Totengedenken (die Bienen!) sind honeypots für rechtgläubiges Misstrauen.

Das ist aber alles nicht so wichtig wie die Tatsache, dass F. hier einen dicken Pflock einschlägt: gegen die Verkopfung des Gottesdienstes, seine Verkürzung, „Privatisierung“ und Entmystifizierung. Während etwa am Theophaniefest dem bloß Gläubigen nach der elften, zwölften Paremie (wenn nicht früher) so langsam Beine und Gehirn einschlafen, wird am „Fest des Wassers“ bei F. die Kirche mit jeder dieser Lesungen mehr und mehr geflutet: Es ist …

zu spüren, wie sich die himmlischen und irdischen Schleusen öffnen und von überall Wasserströme hereinbrechen; sie überschwemmen und füllen alles mit sich, schäumen und zerschneiden überall die Luft. Wasser, Wasser, Wasser … und noch mehr Wasser, das die ganze Welt durchdringt, unseren Körper durchströmt – der Geist des Wassers, angerufen mit machtvollen Worten. Der ganze Altar ist angefüllt mit Wasser und einem wasserblauen kühlen Licht …

Der Geist des Wassers … wer hierdrüber gestolpert ist, sollte das Buch kaufen.

Überhaupt ist es ein Buch, das frische Einsichten verspricht und zum Weiterdenken anregt, vor allem aber sehr ernsthaft mit der kultischen Überlieferung unserer Kirche umgeht. Das absolute Fehlen von Leichtsinn im Umgang mit dem scheinbar Überholten und Irrelevanten des orthodoxen Ritus färbt auf den Leser ab – und damit ist schon viel gewonnen, vor allem für den Leser selbst.

Am Anfang meiner Übersetzungsarbeit gab es noch den Verlag „Edition Kontext“. Der hat leider zwischendurch seine Tätigkeit eingestellt, aber dank Herrn Fernbach von Edition Hagia Sophia konnte das Projekt gerettet werden. Spuren hat Edition Kontext gleichwohl hinerlassen, etwa mit dem Anspruch, eine Florenski-Werksausgabe „in literarisch ansprechendem Deutsch und ohne viele Fußnoten“ auf den Markt zu bringen. Nun kann F. zwar auch sehr poetisch sein, aber meistens ist er es nicht – das Kapitel über Kant etwa liest sich leichter, wenn man wenigstens einen LK Philosophie besucht hat. Hinzu kommt, dass F. zunächst Mathematik studiert hatte und sich auf einer abstrakten, metalogischen Ebene mühelos über die Grenzen unseres gewohnten relativistischen Denkens hinwegsetzt. (Als Christen sollten wir da eigentlich folgen können, schließlich nimmt F. lediglich Gottes Unermesslichkeit ernst – aber insgeheim wünschen wir uns eben doch lieber sicheren Boden unter den theologischen Füßen.)  

Die Vorgabe von Edition Kontext nach Lesbarkeit war also eine Herausforderung. Sie ist auch der Grund, warum die Lexik in diesem Buch zuweilen nicht so präzise orthodox ist. Und Fußnoten sind es nur deshalb wenige, weil wir um die vierhundert Quellenangaben in die Endnoten und über hundert weitere ins Internet ausgelagert haben.

Auslagern mussten wir nämlich viele der Notizen und Quellenauszüge, die F. in seinem Manuskript lose zu jeder Vorlesung beigelegt hatte, und die in der russischen Werksausgabe aufgenommen wurden. Sonst wären wir bei fast 800 Seiten gelandet. So ist die Materialsammlung auf der Website Florenski.de entstanden – da findet man den Großteil wieder und darf erstaunt sein, welchen Wust an völlig unterschiedlichen Informationen der gelehrte Priester für seine Vorlesungsreihe verarbeitet hat. Vieles ist dort auf die Originaldokumente verlinkt – feine Sache eigentlich, so ein Internet …

Auf der Site gibt es auch die Vita des Verfassers, daher sei hier auf weitere Ausführungen dazu verzichtet und nur am Rande erwähnt, dass F. fünffacher Familienvater war. Was man bei ihm daher eher nicht findet, ist Rückzug, Hesychia und Herzensgebet. Als Mönch muss man womöglich andere Bücher lesen.

Zu Risiken und Nebenwirkungen dieses Buches fragen Sie bitte ihren geistlichen Vater. Es besteht ein gewisses Suchtpotenzial, und manches verträgt sich nicht so ganz mit der Schulorthodoxie. Wirksam ist es aber zweifellos, und preislich liegt es immer noch im Bereich einer Familienpizza. Urlaubslektüre! Auf der Website Florenski.de gibt es einige Leseproben.

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Hallo lieber HansPeter
    wieso „flammend“? Ist das nicht ein „zerbrochenes“? Oder ist diese Umformulierung gewollt und ich bin bloß ein alter Beckmesser?

    1. Liebe Cornelia,
      ich gebe zu, dass diese etwas provokante Abwandlung des Psalmverses durchaus gewollt war, und hoffe, sie wirkt nicht allzu anmaßend.

      Florenski betont, dass dieses gebrochene Herz nix Statisches, Apathisches ist, sondern ein in Liebe und Gottesfurcht entflammtes, das sich mutig vom zweischneidigen Schwert des Wortes Gottes durchdringen lässt (Hebr 4,12). Zitat:

      Das Recht auf Worte über die Liebe hat nur, der in sich die erhabenen Perun-Götter eingesperrt hat. Wenn die unterdrückten Donner tief im Innern gären, wenn schwere Hammerschläge unser Herz schmieden, wenn Blitze hervorbrechen und unsere kreatürliche Schwachheit zerreißen und aufwühlen – dann ist da etwas, das in ein Wirken der Liebe verwandelt werden kann … Die Ausgießung der Liebe ist demjenigen zugänglich, der sich mit scharfer Kontur, wie schneebedeckte Gipfel, in den blauen Äther des Himmels gebohrt hat. Vergeblich die Hoffnung, dass sie auf jemand herabkommt, der in morastigen Tälern sitzt.

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