Freytag, Gustav – Soll und Haben

(1855 | 850 S.) 6 Romane in einem Band oder in zwei Bänden

Meinung

Cornelia meint:

Bd 1

Wer vorher Fontane gelesen hat, wird betrübt die literarische Niveau-Absenkung feststellen. Es klappert die Literaturmaschine, wenn die Natur ihre Erscheinungen zu symbolischer Verwurstung hergeben muss. Menschen reduzieren sich auf bloße Typen, bei denen immerhin im Guten auch bissel was Ungutes und im Unguten immer auch bissel was Gutes für Mitgefühl und begrenzte Identifikation sorgen. Der Roman bietet allerdings ein eindrucksvolles Zeitbild des beginnenden Industriezeitalters, in dem das Geld seinen Einfluss auf die gesamte, vorher genealogisch geordnete Welt spürbar werden lässt. Toll die Darstellung eines Großhandels-Kaufhauses, mit seiner inneren Maschinerie und den menschlichen Beziehungen, die den Pflichten- und Aufgaben-Rahmen prägen.

Haupt-Thema: Niedergang des Adels. Im entscheidenden Gespräch zwischen Anton Wohlfahrt und dem Prinzipal Schröter wird klar: Für ererbte Privilegien ist in einer fortschrittlichen, sich entwickelnden Welt kein Platz. Die romantische Liebe, die Anton, ebenso wie Bernhard Ehrenfels, für die Schönheit des aristokratischen Lebens empfinden, bricht sich an der Unfähigkeit des Adels, die Söhne für die Herausforderungen der neuen Zeit fit zu machen. Anton ist diesem Zauber, auch durch seine Liebe zu Leonore von Rothsattel, verfallen. Er gibt eine vielversprechende Karriere bei Schröter (und eine wunderbare Liebe zum guten Hausgeist Sabine) auf, um den Rothsattels in ihrem vom Vater verschuldeten Elend beizustehen. Er sieht sich, verblendet durch seine Liebe, in der Pflicht, den Verzweifelten zu helfen. Wie das gelingen kann –wird der zweite Band zeigen.

Interessant die jüdische Kontrastwelt (und schwer zu ertragen der extreme Antisemitismus in der Schilderung jüdischer Gewinnsucht und verbrecherischer Gewissenlosigkeit). Auch hier – wie bei Rothsattel, ein Vater, der alles für die Kinder tun will. Unglücklicherweise hat Ehrenfeld es auf das Schloss der Rothsattels abgesehen und missrät dem Vater, der diesen Besitz für die Familie dauerhaft sichern will, sich auf Spekulationen einzulassen, die jenen Besitz ihm selbst sichern sollen. Sohn Bernhard, für den all das gedacht ist, fällt allerdings aus dem negativen Bild heraus: er vertritt jüdische Gelehrsamkeit und moralische Integrität. Er flucht dem Vater noch auf seinem Sterbebett. Rothsattel andererseits, in seiner blinden Liebe zum eigenen Sohn Eugen, verschließt die Augen vor dessen Schuldenmacherei. Sowas gehörte früher zum guten Ton, und man merkt nicht, dass die Konsequenzen heute schlimm sind. Viel Hilfe ist von dem arroganten Kerl nicht zu erwarten. Das soll dann alles Anton stemmen.

Dann gibt es noch Fritz von Finck, der seinen Adel verachtet und mit der Adelsgesellschaft wie mit allen anderen sein spöttisches Spiel treibt. Immerhin verdient sich Anton durch mutiges Bestehen auf seiner Würde als Abiturient den Respekt des blasierten Mannes, der nie die Liebe einer Kernfamilie erlebte, sondern nur den Hass und die Bosheit seines Onkels. Am Ende muss er sein Erbe in den USA antreten, wo er im Sumpf von Korruption und Betrügereien versinkt. Dort schaffen es die Leute also ohne Juden, einander an die Gurgel zu gehen.

Ich muss sagen: Freytag beeinflusst mich. Von seiner Perspektive aus dem Übergang vom Ständestaat zur liberalen Marktwirtschaft her verstehe ich seine Wertschätzung des Fortschritts auch da, wo das Neue zweischneidig ist: Der Fortschritt stellt hier die Hürde dar, an der sich jene persönlich bewähren müssen, denen ihre Familie die besten Voraussetzungen mitgab, und die Chance, an der sich der redliche und arbeitsame Mensch von unten nach oben durcharbeiten kann.

Darum, für Zeiten, in denen man einfach was Spannendes will, mit historischem Mehrwert, und in denen man auf die Problematik der einseitig negativen Darstellung der östlichen Juden gut vorbereitet ist

Jg , Hist

Bd 2

Weiter geht’s mit Niedergang des Adels: dem Modell-Freiherrn Rothsattel geht der Selbstmordversuch (kein Gedanke an die Frauen …) ins Auge. Erblindet verhält er sich immer unleidlicher. Anton (voller Hilfsbereitschaft, wenn von Baronin gebeten) hat seine Karriere bei Schröter aufgegeben, macht den Gutsleiter im polnischen Hinterland und wird dafür mit völlig fehlgeleitetem Misstrauen genervt. Allerdings war auch sein eigenes Opfer nicht ganz hasenrein – der Traum Leonore spukt ihm noch durchs Herz. Nachdem er sich ein Jahr lang aufgeopfert hat und im Krieg gegen die Polen sein Leben riskierte, wird ihm praktisch (man greift ihm an die Ehre) der Stuhl vor die Türe gesetzt. Die Baronin vermeidet es, ihren Mann mit traurigen Wahrheiten zu konfrontieren, er wird als Patient geschont und macht weiterhin Fehl-Entscheidungen, bei denen Anton halt störte. Der Taugenichts-Sohn, der sogar arme Arbeiter anpumpte für seine Spielschulden, erleidet den erlösenden Heldentod.

Eine glücklichere Entscheidung des Alten ist, den heimgekehrten Fritz von Finck anzuerkennen (der gehört ja auch zur eigenen Kaste!) und sich von ihm das verrottete Gut abkaufen zu lassen. Anton soll (die Baronin bittet und stirbt) nach Rauswurf trotzdem noch die belastenden Papiere von den Übeljuden besorgen, dabei ertrinken zwei von denen und der dritte wird verrückt. In diesen Szenen deutliche Anleihen bei Dickens‘ Schauerlondon. Immerhin wird so Leonore eine Mitgift gesichert; sie kann Fink heiraten, ohne sich als Wohltätigkeits-Opfer sehen zu müssen. Freytags Darstellung der Zähmung des wilden Mädchens durch die vereinte Anstrengung der beiden Jungs sehe ich zwar im Blick auf ihre mangelnde Erziehung ein, sie ist mir aber unbehaglich: Um die Baronesse Ehe-tauglich zu machen wird sie durchgegrillt. Überhaupt diese Frauen: Sabine ist einerseits immer nur mit Serviettenzählen und Vorhang-Aufhängen beschäftigt, andererseits soll sie als vollwertiger Kompagnon ihren Bruder überall beraten. Da wird die weibliche Intuition, die ansonsten das Klima im Haus auf Herzenswärme hält, ganz schön beansprucht. Leonore macht die Amazone, muss dann aber im Wald mit verstauchtem Knöchel von den Leuten gesucht werden, die eigentlich die Insurgenten vertreiben sollen. Da kann sie einen Bändiger durchaus brauchen, auch wenn dessen manipulative Methoden mir missfallen.

In beiden Bänden dröhnende Abwesenheit von Kirche, wenn man von den Kirchtürmen der Dörfer mal absieht. Der Freiherr ist nicht bereit, sich mit fehlendem Chor und Herrenplatz der örtlichen Dorfkirche abzufinden und lässt im Schloss eine eigene Kapelle errichten, wohin der Geistliche dann bestellt wird. Anton, anständig, sitzt mit den Dörflern in der Bank!

Abgesehen von dieser Leerstelle wird das deutsche Westen hier gefeiert als Überlegenheit und Herrenrasse, die den rückständigen und Kultur-resistenten Slawen Ordnung beibringen soll. Da die Slawen unfähig sind, gutes Handwerkszeug, gute Maschinen und eine tüchtige Regierung zu schaffen, braucht es die deutschen Kolonisten, die im Namen des Menschheitsfortschritts die Übermacht erkämpfen und sich mutig für ihre höhere Zivilisation aufopfern. Da ist natürlich viel real Erlebtes dran, die Preußen waren tatsächlich entsetzt über die Primitivität der Bauernwelt, als sie sich Teile Polens zur Zeit der drei Teilungen einverleibten. Man liest das allerdings beklommen, denn, ebenso wie bei den Juden, liegen hier die Grundlagen zu Vorurteilen, die Hitler später nur abrufen musste, um zu vernichten und zu versklaven.

Zugestanden wird dem polnischen Adel Nobilität und Ritterlichkeit, – aber auch Verrat und brutaler Eigennutz. Am Ende schafft es Freytag, durch einige scharfe Kurven nicht nur dem Finck seine Leonore, sondern auch dem Anton seine Sabine anzutrauen: Diese jüngere Schwester des Prinzipal hatte auch unter der Faszination durch die Adels-Leichtigkeit und -Schönheit gelitten, sich aber von Finck nicht blenden lassen, der vor seiner USA-Erfahrung eher eine Aufpasserin gebraucht hätte als eine Ehefrau. Sabine lernt umdenken und kriegt am Ende ihren Anton, den sie auch gleich zum Teilhaber macht.

Obwohl ich nicht das Herz habe, dieses Buch wirklich zu empfehlen, kann man es als historisch interessante Trivialliteratur für Rekonvaleszierende gelten lassen.

Info

Erscheinungsjahr19. Jh., 2. Hälfte
Seiten> 600
AutorFreytag, Gustav

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