Goethe, Johann Wolfgang von – Dichtung und Wahrheit

(1831 | 1100 S.)

Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit ist ein zwischen 1808 und 1831 entstandenes Buch, in dem Johann Wolfgang von Goethe Erlebnisse aus seinem Leben aus den Jahren von 1749 bis 1775 verarbeitet. Wikipedia.

Meinung

Cornelia meint:

Ein einziger Jubel begleitet den Beginn dieser Lektüre. So Lebens-reich und -wahr und -satt und -voll wie der Wilhelm Meister, aber ohne die unnötig ideologischen Freimauerer-Zugaben dort, ohne die schräge Romantik als Kulisse, ohne das dramatische Spannung-Erzeugenwollen. Es ist hier ganz einfach das Leben eines jungen Genies, dargestellt unter Bedingungen äußerer Wohlhabenheit und Gesittung.  Und diese Realität wird so poetisch wahrgenommen, dass ich beinah von einem magischen Realismus reden möchte. Auch die beigefügten Reflexionen sind immer interessant und lohnend. Wenn das so weitergeht, wird es sicher das beste Buch in meiner Sammlung sein und das allererste, das ich Jugendlichen ans Herz legen möchte. Hier erlebe ich nämlich, wie die Darstellung einer inneren Entwicklung durchaus „erhebend“ wirkt, und dies in Weisen, die nirgends durch dumme Ideen abseits lenkt.

Großartig, wie er in II/5 als verwöhnter Hochbegabter, der überall schon nach seinem Urteil gefragt und geehrt wurde, durch schlechte Freunde, die seine Eitelkeit nutzen, in politische Schwierigkeiten geriet, unter denen ihm auch die erste große Liebe zu Gretchen abgeschnitten wird. Ergreifend seine Erkrankung, aber auch die Sensibilität, mit der die Familie sich kümmert.

II/7 hätte mir die ganze Einführung in die deutsche Philologie von Oberrat Stopp in Bonn ersparen können. Was der als Langweiler an Faktenwissen zusammenkehrte, um es in unsere wehrlosen Ohren unter Prüfungs-Androhung zu kippen, wobei er uns dafür ausschimpfte, dass wir nichts von alledem gelesen hätten, was kein Wunder war, denn er hat uns auf nichts darin neugierig gemacht, – das geht dem Goethe so locker und unterhaltsam aus der Feder, dass ich mit leuchtenden Augen den Stoff nochmal neu sehe. Das sollte man jedem Gymnasiasten ans Herz legen, spätestens dem Erstsemester der Germanistik. Herrlich auch auf S. 237 und schon in II/6 192), wie er die Philosophie mal wieder in den Klamottenschrank steckt und die Theologie in der Defensive am natürlichen Licht verdursten sieht. Seine eigenen Studien des Alten Testaments haben ihn zwar rücksichtslos auf alle Ungereimtheiten gestoßen, ihm aber trotzdem eine erstklassige moralische Erziehung geschenkt. Da drüber ist er nie rausgekommen, leider.

Ab 249 gibt das siebte Buch eine Analyse des Verlusts von Kirchlichkeit im Protestantismus, und in die Diagnose: Es fehlen halt die Sakramente, und damit die Hauptsache. Goethe versteht gut die Notwendigkeit einer Entwicklung des sakramentalen Sinns, der symbolischen Erlebnisfähigkeit. Heilkräfte der Beichte, der Buße, der letzten Ölung, der Priesterweihe, – und all das ist dem Protestantismus verloren gegangen. Und was davon übrig ist, misslingt, besonders die Beichte.

Auch in II/8 288 varieties of Enlightenment religious experience. Frau von Klettenberg, die schöne Seele aus Wilhelm Meister.302 ff, und dann  seine selbstgebastelte Religion mit gemütvoller Apokatastasis.

In III/11 geht es um deutsch-französische Empfindlichkeiten im Elsass und ein erwachendes deutsches Nationalgefühl, besonders 418 ff, wobei aber Rousseau das Idol blieb. Vorbereitung auf den Sturm und Drang ab 421, zugleich Vernunft und Freiheit mit dem Verlust des Glaubens. Da hilft Shakespeare, III/12 Klopstock. All diese berühmten Männer bilden am jungen Goethe rum, und der saust durch die Einflüsse und Führungsversuche hindurch wie die Erstklässler durch den Wald einer Draußenschule.

In III/13 deutsche versus englische Literatur: der englische Menschenhass. Und dann – auf dem Weg zu Werther – das Problem des Selbstmords. Ab 511 wird mir klar, dass ich unbedingt den viel gelobten Justus Möser lesen muss, der eine ähnliche soziologische Geschichtsschreibung vorzubringen scheint, wie ich diese an Gustav Freitag so gründlich genieße.

In III/14 geht es um Lavaters Bemühen um Christusgleichheit im Streit zwischen Glauben und Wissen (- ja, damals schon, lieber Habermas). Und ab 536 werde ich aus Spinoza nicht ganz schlau, beschließe aber, den doch endlich zu lesen.

In III/15 wieder die Frage: ist Goethe ein Christ oder ist er keiner? Gegen die Christen glaubt Goethe lieber an das Gute in Mensch und Natur, – und das passt zu seinem menschenliebenden, hilfsbereiten und zartfühlenden Wesen.

IV/16 kommt mit Jung-Stilling wieder die Frage nach der Gottgefälligkeit auf. Goethe ist ein feiner Menschenkenner, und bis in die tiefsten Falten des Herzens hinein spürt er die Eitelkeiten auf. Interessant – und in Gegenposition zu Freytag 100 Jahre später, geht es in IV/17 um Adel und Bürgertum, Blut und Leistung. Goethe ist für Leistung. In IV/20 wirft er einen Blick zurück auf seine geistliche Entwicklung (die ja, in dieser tiefen Involviertheit, für die Beurteilung des späteren „Heiden“ bemerkenswert ist) und erklärt, warum er letztlich bei „der Natur“ landete, die er in ihrer Paradoxie „dämonisch“ verstand. So erschließt er sein Werk aus dem Nebeneinander seines letztlich vertrauenden Humanitäts-Optimismus (über das Gutsein der Menschen) und seiner Anerkennung dämonischer Kräfte, die dieses Gutsein herausfordern. Tatsächlich haben wir hier das Koordinatensystem seiner literarischen Werke.  Ich finde aber dieses Zeugnis seines geistigen und geistlichen Wachstums auf Weimar, die Endstation, hin, sehr viel faszinierender als die fertigen Werke. In dieser Autobiographie gerät man überall mit ihm ins Gespräch und kann mit ihm wachsen, während in den Dramen halt schon die Maschine rattert.

Allerdings wird es gegen Ende schwächer: Mal ganz abgesehen vom Graus mit Friederike, die er – das ist mir zunächst beim Lesen des doch sehr diskreten Textes gar nicht klargeworden – aufs Ärgste benutzt, ausnutzt, auslutscht, und dann wie eine Bananenschale nach Genuss der Frucht so einfach fallenlässt (gab es da keinen Bruder oder Vater, der dem jungen Mann einen Degen durch den Leib hätte rennen können? Alles starb wohl vor Bewunderung und Gutgläubigkeit. Brrr. Später spürt man die Ungeduld, die Lilli-Leidenschaft hinter sich zu bringen und in Weimar ein neues Leben anzufangen.

Zum Nachtisch gibt es noch ein paar biographische Zugaben, von denen mich nur die erste Bekanntschaft mit Schiller interessierte und vielleicht das Treffen mit Napoleon.

Jg + und alle anderen

Info

Erscheinungsjahr19. Jh., 1. Hälfte
Seiten> 600
AutorGoethe, Johann Wolfgang von

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