(1932 | 370 S.)
Meinung
Cornelia meint:
Ein entsetzliches Buch. Meine Übersetzung ist allerdings sprachlich sperrhölzener als das Original. Eine Dystopie, na gut. Reproduktion industrialisiert, 5 Menschensorten für verschiedene Aufgaben. Keiner gehört sich allein, alle gehören allen. Dagegen wehrt sich Sigmund. Bei dessen Fabrikation als Alpha plus wurde offenbar zu viel Alkohol beigegeben. Deshalb „passt“ er schon äußerlich nicht. Und weil er deshalb, und auch als sexuell nicht sehr erfolgreich, zum Bewusstsein seiner selbst gelangt, will er sein Glück nicht via Pille verabreicht kriegen, sondern auf eigene, einzige Art. Außerhalb eines religiösen Kontextes schwer verständlich, kommt er auch noch auf die Idee, es wäre hierbei gut, seine Triebe zu beherrschen.
Letzteres wird ungern gesehen, denn das ganze Glückssystem erfordert Sexualisierung aller Lebensbereiche, von Kleinkindheit an (die modernen Kita- etc. Programme lassen grüßen). Dabei sind aber keinerlei Gefühle oder leidenschaftliche Bindungen erlaubt, weil sowas Leid und Disharmonie schafft. Auch das überzeugt sofort. Einleuchtend also, wie das nicht-dazu-Gehören zur Zurückgeworfenheit auf das Selbst führt. Weniger verständlich allerdings, wie das nicht-Akzeptiertsein den Triebstau in eine Liebe verwandelt, die exklusiv Lenina will. Bloß Lenina (chemisch korrekt eingestellt) ist für eine wirklich persönliche Beziehung nicht zu haben. Sowas macht ihr die politisch korrekte Angst.
Gegenstück zu Siegmund ist der etwas über Durchschnitt begabte Helmholtz, der Erfolg bei allen hat und merkt, dass solcher Erfolg nicht alles sein kann. Während Helmholtz aber „anders“ ist im Sinne natürlicher Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft, leidet Sigismund unter seinem verkümmerten Ego in sich eingekrümmt, also neidisch, rachsüchtig, ehrenkäsig.
Also zwei Testfälle: körperliche Unzulänglichkeit führt zu geistigem Überschuss, geistiger Überschuß führt zur Einsamkeit, – und damit fallen beide aus der kanonischen Masse raus.
Dann urlauben Sigismund und Lenina im Reservat der Wilden, die noch von Müttern geboren werden, und wo eine Art Minestrone vergangener Kulturbruchstücke quasi Indio-mäßig verhodgepodged wird. Irgendwie ist die Freundin von Sigismunds Chef dort mal abgestürzt, wurde von den Eingeborenen aufgepäppelt und kriegte dort das Kind, das sie nicht hatte verhüten können. Die beiden leben als Parias. Der Junge Michel wird ausgegrenzt, andererseits von seiner Beta-Mutter mit unverdauten Bruchstücken des Neue Welt Ethos gefüttert. Das führt dazu, dass ihm angesichts einer Tod-oder-Leben Erfahrung irgendwie Gott offenbart wird, – was ja nu gut ist.
Ungut ist, dass jener Gott, der da in das Herz des Halbwilden einbricht, aus einem korrupten Katholizismus kommt. Er ist ein Strafegott, den man nur gnädig stimmen kann, wenn man sich selbst blutig geißelt. Und insbesondere, wenn man zum Keuschheitsfuzzi wird. Weshalb der Junge, den man mit Mama endlich aus dem Reservat rauslässt und back home als Weltwunder bestaunt, an seiner Liebe – nu ausgerechnet auch – zu Lenina leidet. Noch mehr leidet der Junge daran, dass er sie nur als die Sorte Hure ansehen kann, als die seine Mutter im Reservat verrufen war, weil sie (korrekt Beta) nicht wusste, dass man den Bedürfnissen der Männer (und den eigenen) nicht einfach nachgeben sollte. Der Junge steht also zwischen Sohnesliebe und Verachtung der Mutter einerseits und erotischer Liebe und Verachtung seiner selbst andererseits und hängt sich endlich auf.
Interessant ist einer der Weltaufsichtsräte, Ford, der irgendwie vergöttlicht wird (es gibt viel Ersatzreligion als Zubrot zu den Sexpillen) und der selbst „rausfiel“ durch seine Suche nach Wahrheit der Wissenschaft – statt nach Glück. Er entschied sich aber dafür, dem Glück der Allgemeinheit zu dienen. Der hat auch die Bibel, Kardinal Newman und Henry James im Giftschrank, kennt sogar Shakespeare, an dem der junge Michel im Reservat lesen und anders denken gelernt hatte. Als Mastermind weiß er, was man alles vermeiden muss, weil es das System gefährden würde. Denn (selbst abgesehen von Christentum und tutti quanti) hat auch die Wissenschaft irgendwann mal mehr Vernichtung verursacht als immer neue Lebenserleichterungen und Zerstreuungen zu erfinden. Darum wurde auch sie radikal beschnitten und nur noch in engen Grenzen gepflegt. Insofern kann man diesen Huxley als einen Fortsetzer von Dürrenmatts Physikern ansehen.
Das Schlimme an diesem Buch (abgesehen vom Ekel, der sich beim Lesen auf die Seele legt) ist seine Grundlage in der fallacy of excluded middle. Kein Mensch möchte die Vernichtungskriege der „alten Welt“ zurück und kein Mensch möchte eine pervertierte Religion des Masochismus (den „Antichristen“ Dostojewskis kennt Huxley wohl nicht). Aber zwischen diesen Extremen weiß dieser bildungsbürgerliche Engländer kein Drittes. Sein Gottesbegriff ist sowas von Sinn-entleert und Verwesungs-eingestunken, dass Huxley sich menschliche Freiheit, Persönlichkeit, Würde nur als rettungslos absurd (weil selbstzerstörerisch) vorstellen kann. Der einzige Nutzen, den man aus sowas ziehen kann, liegt somit nicht auf der Ebene des Inhalts, sondern auf dem Zeugnis für die Armut einer Kultur, die den Autor geformt und seine Wahrnehmung der conditio humana geprägt hat.
(Übrigens interessant Fords Ersatzreligion: Wenn Schmemann sagt, Religion unterscheide sich vom Christentum dadurch, dass sie Transzendenz von Immanenz trennt und so das Allltags-Leben nicht berührt, dann haben wir hier eine transzendenzlose „Zivilreligion“, die mit ihren frommen Zeichen und ihrem frommen Treuebewußtsein und mit ihrem Idol-Gehorsam das ganze Leben prägt. Genauso sollte es für uns Christen sein, – nur halt mit einem lebendigen Gott.
Info
Erscheinungsjahr | 20. Jh., 1. Hälfte |
Seiten | 300-600 |
Autor | Huxley, Aldous |
Kommentar zu: Huxley, Aldous – Schöne neue Welt.