Huxley, Aldous – Geblendet in Gaza

(1936 | 450 S.)

Meinung

Cornelia meint:

Jakob Schmidt, Achtsamkeit als kulturelle Praxis, 2018, rechnet ihn dem modernen Buddhismus zu, der alle Religionen als letztlich identisch ansieht

Geblendet in Gaza 1936

Meine deutsche Übersetzung ist hier wesentlich besser, – man merkt, wie souverän der Autor die Sprache bespielt. Das liest sich dann wie eine Reise in ein exotisches Land: Liebesleben, Kindheit, Schulzeit, Studium unter Bedingungen einer spezifisch englischen oberen Mittelschicht. Faszinierend, wie hier die utopische Schöne neue Welt eigentlich längst Gegenwart ist: Es gibt menschliche „Kasten“, die untereinander kaum in Berührung kommen. Da bleibt nur Neid nach oben, Verachtung nach unten (das wird allerdings in der Utopie mittels Schlafschule abtrainiert). Antony ist eine Art Sigismund (reflektiert, auf Vollständigkeit der Lebensoptionen aus, aber moralisch schwach), und Brian eine Art (allerdings sprech-behinderter) Helmholtz (der am Sigismund-Konflikt zwischen anbetender und sinnlicher Liebe hier zugrundegeht, mehr Transzendenzbezug aufrecht hält, weiß, dass wahre Freiheit Bindung voraussetzt… und angesichts des Verrats von Antony – der seine Verlobte verführt – sich allerdings umbringt). Lenina erscheint hier als eine seelisch komplexere Helen, die hier noch mehr von der Liebe will als bloß Befriedigung.

Allerdings bewegend der psychologische Blick, die Wahrnehmung vom Ideal des Anstands, das immer wieder verraten wird um kleinlicher Leidenschaften willen. Eine durchaus moralische Erzählung (ebenso wie die Brave new world.)

Soweit hatte ich geschrieben, als ich grad ein Drittel durch war. Rückblickend: Natürlich irritieren die ständig durcheinandergewirbelten Zeit-Episoden. Vermutlich entspricht das dem Bild ganz am Anfang, als Antony die Fotos seiner früheren Jahre findet und sich über die Last der Erinnerung beklagt. Am Ende wird klar: Dieses ständige Vor und Zurück erschließt unseren Blick auf Antony und auch seinen eigenen auf sich selbst, Schicht für Schicht aufblätternd was ihn zu dem machte, der er wurde, nämlich voll daneben. Sinnlosigkeit eines Lebens, das sich auf das Nachgeben gegenüber den eigenen egoistischen Neigungen beschränkt. Die schöne Mutter starb halt zu früh, der Vater ein Graus, in der Schule die Demütigungen und die Feigheit des Dazugehörenwollers, Hörigkeit gegenüber der bösen Mary, die zum Selbstmord seines besten Freundes führt, Schuldgefühle, Selbstverachtung, Abtauchen unter dem Panzer seiner atomaren Eigenständigkeit. Genau darum bringt er dann auch Helen zur Verzweiflung, deren ganze Kindheit schon erfüllt war von unerfüllter Sehnsucht nach Liebe (und die das aber, anders als Antony, gemerkt hat). Am Ende lässt er sich von Mark in ein tödliches Risiko locken, um aus der Selbstverachtung rauszukommen, trifft dabei aber auf den Pazifismus-Buddhismus-Miller der ihn zur Läuterung und zur Bereitschaft zum Martyrium für die gute Sache führt.

Lange dachte ich: das ist ein sehr englisches Gesellschaftsspiel (alle schlafen mit allen oder anderen) samt umfassender Kulturkritik, grausigem Zynismus, Feier des wirklich Bösen (Mary) und bemerkenswert moralischer Sensibilität. Ich dachte, das muss man sich nicht antun. Aber dann geht es unter # 50 um die Auseinandersetzung zwischen einem persönlichen und einem unpersönlichen Gott, und da tut es weh. Ich glaubte immer, unser persönlicher Gott sei die Trumpfkarte, die wir gegen die fünf-Sterne Moslems des Sufismus ebenso spielen können wie gegen die asiatischen Religionen. Aber hier wird beides nebeneinandergestellt, als käme das Eintauchen ins Nirwana (und die Wiedergeburterei zwecks Höherentwicklung zwecks vollerem Eintauchen) auf dasselbe „Gute“ raus wie unsere Antwort auf den Anruf eines Drei-Persönlichen Gottes. Um sich gegen solchen Religions-nivellierenden Defätismus zu wappnen, muss man sehr genau hingucken, wie dieser Antony über Persönlichkeit denkt, die er nur atomistisch versteht, und über Christentum, das er im Katholizismus nur magisch denkt. Man muss also bei den quasi kanonischen Selbst-Erziehungs-Dokumenten in seinen Merkbüchern ganz genau aufpassen, wo da was schief geht.

Damit wird dieses Buch, über den englischen Parochialismus hinaus, zu einer Herausforderung für orthodoxe Christen. Es lohnt sich, da ranzugehen.

Orth

Info

Erscheinungsjahr20. Jh., 1. Hälfte
Seiten300-600
AutorHuxley, Aldous

Kommentare

Kommentar zu: Huxley, Aldous – Geblendet in Gaza.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert