Keller, Gottfried – Kleider machen Leute/ Vermischtes

ca. 1860-1880

Meinung

Cornelia meint:

Vermischte Schriften

Der Wahltag

Seine demokratische Pflicht nimmt Opa ernst, aber die Enkel sind zufrieden damit, wie die Regierung läuft und wollen sich nicht weiter drum kümmern. Sollen doch die anderen wählen, auf mich kommt‘s nicht an, ich muss mir eine schöne Frau suchen.

Aber man muss doch hingehen und gucken, wer Vertrauen verdient! Und nur mit Beteiligung kann man den Föderalismus gesund halten, gegen die Einheitsideologie. Die 3 Enkel gehen also brav hin, wählen, und wollen dann – Spaß muss sein – das Dorf verspotten, das am wenigsten Wähler aufbrachte. Da hat Opa schon, so ganz nebenbei, aus eben jenem Dorf eine Ehefrau besorgt, viel schöner als der Jakob sie hatte woanders freien wollen.

Eine gute Geschichte, um Kindern demokratische Tugenden nahezulegen.

GK

Verschiedene Freiheitskämpfer 1862

Wenn Feinde das Land erobert haben, schäkern die Mädchen mit den als Besatzung einquartierten Eroberern, aber nur, wenn die eigenen Männer sich im Krieg nicht ordentlich gewehrt haben. Oder wenn sie durch die Schwäche ihrer Regierung hilflos waren.

Revolutionäre Franzosen sind einmarschiert, und Babette gewinnt den Peter lieb. Dieser bringt ihr französische Politik bei und sie ihm die schweizerischen Kantone. Dann aber muss er weiter-erobern, denn ein winziger Ort hält noch gegen die Franzosen stand. Dort leben Aloisi und Klara. Die Wenigen verteidigen sich heldenhaft gegen die vielen Fremden, am Ende treffen Aloisi und Peter aufeinander, letzterer ziemlich verstört über dieses Schweizer Heldentum. Trotzdem hatte er viele Frauen in seine Gewalt gebracht und Trophäen der Anstecknadeln gesammelt. Dann finden beide – Aloisi als Peters Gefangener – Klara. Tot aber ohne Verlust ihrer Nadel. Als Peter ihr die Schuhe abzieht, findet Aloisi Kraft, ihn zu besiegen. Aloisi überlebt, aber – in sich gekehrt.

Die Sieger zwingen den Besiegten Freiheitsfeste auf, Babette heiratet den langweiligen Waisenschreiber, und man lebt sich vergnügt dahin.

Ein Zeugnis des Heldenmuts der einen und der Schäbigkeit bei den anderen.

GK

Martin Salander 1886

Eindrucksvolle Geschichte von einer Familie. Der Vater moralisches Vorbild ohne Christentum, dabei von singulärer Großmut und zugleich von Dummheit gegenüber dem bösen Dämon seines Lebens geschlagen. Dieser hat ihn zweimal um alles betrogen, und erst nur beim dritten Mal verhütet der kluge Sohn ein neues Desaster. Eindrucksvoll, wie die lieben Töchter auf die Jungs der Aufsteiger-Familien reinfallen, die dann aber nachher nix taugen, und man die Scheidung einreichen muss. Die Schuld liegt beim Vater, der sie so schön als Haustöchter halten wollte, wo sie nix lernten und nur Dummheiten machten. Die Ehefrau ist die wahre Heldin und moralische Lichtgestalt, auch mit mehr Bodenhaftung als ihr gern ins Republikanische abhebender Mann.

Interessante Beobachtungen von den Nachteilen der ideal erhofften Republik. Ein Spätwerk, das ich durchaus lesbar finde für junge Leute.

 JG

Das verlorene Lachen 1874

Lässt sich gut an. Zwei junge Menschen (Jukundus und Justine) sind in Liebe füreinander bestimmt. Die reichen Brauteltern akzeptieren den Jungen, der aber failliert in Seldwyla als Kaufmann, weil zu ehrlich. Und schadet dann auch noch dem Betrieb der Schwiegereltern. Das ist alles nett beschrieben, besonders die Braut ist ein kluges Kind aus guter Familie.

Eigentlich ein Lehrstück darüber, dass man der Familienprägung verdankt, was man im Leben schaffen kann. Jukundus hatte einfach keine Chance, er war nur lieb und treu und gutgläubig.

Im letzten Drittel Nebenhandlung über das reformierte Christentum, seine Sinn-Entleerung, insgesamt eine großartige Diagnose des protestantischen Westens. Die Figur des Pfarrers erinnert an – mildere – Formen geistlicher Resignation bei den von Fontane erheblich freundlicher dargestellten Pastoren, die zwar nicht mehr orthodox sind, aber ein gutes Herz haben. So ein Herz hat der Pfarrer hier allerdings nicht, trotz seiner Reformwerke, und er fällt denn auch hintenüber, weil er dafür sich ohne Geschick auf Aktiengeschäfte einließ. Justine fällt als seine Hauptstütze erst auf ihn rein, merkt hernach, wie leer sein Glaube ist und ist geheilt. Dagegen Ursula und Agathchen sind beinah richtige Heilige, wenn auch in einer Sekte, deren Theologie nur noch trockene Krümel bietet.  Trotzdem kommt es über den Predigten dieses Pfarrers zum Streit zwischen den Eheleuten und zur Trennung.

Einerseits also geht es um die Bedingungen wirtschaftlicher Erfolge: Da braucht es Traditionen in der Familie, Zusammenhalt und Askese, und auch das moralische Rückgrat, wodurch die Großeltern durchsetzen, dass die durch eine Wirtschaftskrise nötige Insolvenzerklärung bei Justines Eltern nicht auf Kosten der Arbeiter gehen darf. Andererseits kann Jukundus in der Stadt, unter der behutsamen Leitung eines weisen Mannes, zur vollen Leistungsfähigkeit auflaufen.

Endlich muss er dann auch noch Politik lernen, und da passt gegen Ende die Revolution in Seldwyla ausgezeichnet. Jukundus dient dabei als Denunziant, kommt dadurch mit der Quelle vieler Verleumdungen und Lügen in Kontakt (dem „Ölweib“) und trifft, da Ursula und Agathchen jetzt bei jener wohnen, seine liebe Frau wieder, große Versöhnung. Mit ihrer Hilfe lernt er, die Finger von der Politik zu lassen.

Am Ende finden beide gute Arbeit in der Stadt. Und hier setzt Jukundus seine ganz unkirchliche Integrität des Wahrengutenschönen als Familienevangelium durch. Wir haben in Jukundus ein Ur-Bild der Gutmenschen unserer Zeit.  Das sind toll liebe Menschen, die nach durchlaufener Lebensschule ganz gut ohne Kirche hinkommen. Für ein missionarisches Anliegen sind diese Leute eine große Herausforderung.

So ist dieses Buch hilfreich für größere Jugendliche, die man gegen solche Idealisierungen der Herzens-Eigen-Religion immunisieren muss. Das erfordert Arbeit, denn Keller fährt da völlig drauf ab.

Im internet gibt es von Frederik Hale eine Analyse der religionskritischen Themen im verlorenen Lachen mit vielen Quellen. Nützlich, aber man kann es nicht downloaden, höchstens via UB.

JG-. OR

Kleider machen Leute

In Buch II der Seldwyla Leute – ein wirkliches Vergnügen. Sehr fein moralisch analysiert dieser Schneider, den seine Eitelkeit durch die Dummheit anderer in die größten Verlegenheiten führt. Nettchen, seine Verlobte, lässt jedoch seine Entlarvung und sein Davonlaufen nicht zu, rettet ihn und fragt genau nach Wahrheit. Merkt, dass er ein guter Mann ist, und trägt mit ihm die Schande, bis die Ehre wieder hergestellt ist.

Ein wunderbares Buch, besonders auch wegen der feinen Gewissensprüfungen. Soll man Kindern geben.

GK

Die drei gerechten Kammmacher

Grundfrage: Was ist eigentlich Seldwyla?

In den Kamm-Machern stellt sich diese Frage so: Reicht eigentlich „Gerechtigkeit“, die ja mehr ist als Gesetzestreue, denn sie schließt Tüchtigkeit, Bescheidenheit, Freundlichkeit, hin, um „Stadt zu machen“? Denn bei den Kammmachern werden all diese Tugenden sogar unter Konkurrenten durchgehalten. Allerdings – sobald sich diese Konkurrenz auf eine begehrte Frau und ihr Geld richtet, da schlägt die Tugend in Hass um.

Soweit ich jedoch mitgekriegt habe, aus Pankraz und Regel, sind die Seldwyler überhaupt nicht sehr gerecht, sondern menschlich allzumenschlich, also voller Schwächen, und sie befinden sich gut dabei. An den Kammmachern zeigt sich: deren ganze Gerechtigkeit taugt nix. Weil sie auf reinem Egoismus beruht. Aber soll man einfach die Dummheit der Seldwyler weiter herrschen lassen, weil die Leute doch auch nett sind und sich alles von alleine zurichtet, und Tugendwächter braucht es eh nicht? Keller bleibt die Antwort schuldig.

Die Kammmacherfrage – ist sie die von Bockenförde: daß es mehr braucht als Gesetzestreue? Aber der hatte auch mehr als bloßen Tüchtigkeitsegoismus im Kopf. Wir haben also drei Stufen: Rechtlichkeit, Tüchtigkeit und Solidarität im nett miteinander Sein.

Das Ganze läuft als Groteske. Grotesken sind nix für Orthodoxe. Dieser total lieblose Blick auf die Menschen. Die drei machen ihre Arbeit und wollen es zu was bringen. Das ist Bürgertum, und wir haben gelernt, es zu schätzen. Keller aber findet es ungenügend. Weil die nichts lieben außer ihrer Gier. Nuja, was sollen sie denn lieben? Das Saldwyla? Kaum, denn das verachten sie mit Grund. Keller kann als Feuerbachianer sowieso nicht erklären, warum man irgendwas lieben soll. Es scheint da so ein Verfassungspatriotismus oder liberaler Patriotismus zugrundezuliegen. Jemand ist nicht gut, wenn er sein Land nicht liebt, und die Kammmacher sind Einwanderer aus Sachsen, Bayern und Schwaben. Für die Schweiz reicht sowas schon gar nicht. Oder reicht ein Wirtschaftsliberalismus: Alles klappt nur, wenn jeder auch Geld ausgibt. Denk an den Vorwurf der Welt an Deutschland: zu wenig Konsum. Wir sparen halt. Sind alle Kammmacher.

Waum hasst Keller die drei so sehr, dass am Ende Seldwyla zwei von ihnen kaputtmachen darf und der dritte, der Sieger, von seiner Frau genervt wird? Wem tut so ein Ende gut?

Allerdings muß ich prüfen, inwieweit Chechov nicht auch in die Groteskenkiste fällt. Aber bei ihm gibt es den Schmerz, den seine Grotesken rausschreien. Irgendwelche echt reinen Herzen gibt es bei ihm auch . So den Arzt, der sich nächtlich zu einer Betrügerin rufen lassen muß. Untersuche genauer. In alledem ist Genug Gesprächstoff

JG-

Frau Regel Amrain und ihr Jüngster

Hinreißendes Erziehungsbuch, wo die Frau nach Weggang ihres taugenichtstigen Mannes den Steinbruch übernimmt und zu aller Verwunderung bestens managt. Sie identifiziert den jüngsten ihrer Söhne als Hoffnungsträger, denn der hat sie schon als Kleinkind davor gerettet, von ihrem Werkmeister einheiratsmäßig „übernommen“ zu werden. Das dankt sie ihm mit bester Erziehung (und genau das Erziehungskonzept, das ich bei Fontane in Das Bild des Vaters so gut fand, ist hier vorgegeben!!!), als Kind, und dann durch drei Versuchungen des Erwachsenwerdens: sich in sexuelle Probleme zu begeben und zu korrumpieren, sich in militärische Abenteuer zu stürzen, und sich der republikanischen Pflicht zu verweigern. So wird er, gestärkt durch eine prima Frau, geläutert durch einen Gefängnisaufenthalt, und durch eine Rettung des Gemeinwesens ein tüchtiger paterfamilias, der sogar den plötzlich heimkehrenden Vater cool aufs unschädliche Altenteil setzt.

Das ganze ist höchst erfreulich zu lesen – für eine Großmutter. Wie würden junge Leute darauf reagieren? Es ist etwas für junge Eltern!

 PÄ

Romeo und Julia auf dem Dorfe 1875

Grauenvoll, wie da alles zugrunde geht, in grader Richtung. Wie die beste Ehre und Unschuld dieser jungen Leute sie nicht retten, wie es keinen Menschen gibt, an den sie sich wenden können. Nur einen gibt es, der sie ins moralische Verderben in den Bergen zu den outlaws einlädt, als Rache, denn Ihre Väter haben den mal betrogen. Kein guter Mensch nirgends, und Seldwyla als Inbegriff der Kälte und Bosheit. Brr.

Was absolut horribel ist, wie das Böse sich in ein gutes und rechtes Leben einschleicht, weil die Gier die beiden Bauern dazu verleitet, dem Erben des dritten Ackers sein Erbe vorzuenthalten, nur weil jener die nötigen Papiere nicht hat. Hier sind sie gefangen, werden an dieser selben Gier gegeneinander aufgestellt und ruinieren sich und ihre Familien. Verhängnisvoll schlägt Soli den Vater von Vreneli zum Idioten, weil er sie verteidigen will gegen die väterlichen Schläge – und damit ist für die beiden kein gemeinsames Glück möglich, und es bleibt ihnen nur der Tod.

Genauer schleicht sich das Böse unter dem Mantel der Frömmigkeit ein, denn „es ist nicht recht, dass der Acker brach liegt.“ Nur betrügt man halt den Eigner.

Als Erbe des hier toten Christentums gibt es überhaupt nur die Schuld, unter der die Kinder zusammenbrechen und alle Hoffnung verlieren. Dabei wäre der Schlag sogar rechtlich verteidigbar gewesen: es ging ja darum, die Freundin zu retten. Dass die beiden das nicht als Möglichkeit erkannten, und dass der schwarze Geiger sie ihnen nicht weist –ist entsetzlich. Sie hätten eine Buße gebraucht, jedenfalls der Junge, klar. Aber man hätte ihnen helfen können. Hier ist der Schuld-Protestantismus zu der Unheilsmacht geworden, die zu den Erynnien des Bösen hinzukommt. Zwei Dämonen: Gier und Schuld.

Ein früherer Textabschluß sagt, dass nur die niederen Stände sich die Fähigkeit bewahrt haben, für eine Herzenssache zu sterben. Das erinnert an Fontanes Beschreibungen der Frauen aus dem Volk, die als einzige zu lieben wissen. Begreiflich, dass Fontane das Werk bewunderte. Hier geht es gegen die alte Ständeklausel, die Lessing zwar schon aussetzte, die immer noch im Normalfall galt: Tragödie nur bei den oberen Schichten. Dagegen bei Keller das tiefe Gefühl der Ehre in den Kindern.

Da steckt auch starke Kritik an Gotthelf drin, der als Gebildeter Literatur für das Volk machte.

OR

Pankraz der Schmoller

Was soll man davon denken. Der Kerl macht nix und will nix und lässt Mutter und Schwester arbeiten. Ist der depressiv? Sicher in einer Sinnlosigkeitskrise. Aber durch seine Beleidigtheiten macht er auch Mutter und Schwester das Leben zur Hölle. Dann entwickelt er sich zum Schläger und das bringt ihm Behagen. Einmal aber muss er Prügel einstecken. Wie er heimkommt, hatten die Frauen von seinem Abendessen was gegessen. Da trollt er sich, 15 Jahre lang.

Was ist die Bedeutung von der verrückten Regel in Seldwyla, wonach die Jungen sich vergnügen und erst mit 40 was arbeiten?  Dann ereignen sich einmal verschiedene Dinge, Schausteller kommen durch, es gibt was zu sehen. Und Pankraz ist zurück, hat beim Militär mächtig Karriere gemacht.

Er erklärt sein Schmollen aus Unzufriedenheit mit seiner eigenen Unfähigkeit und seinem Schmarotzertum. Interessant, er wollte sich bestrafen, bestrafte aber andere gleich mit.  Luise Pusch sagt klug, dass die Sinnlosigkeitskrankheit daher rührt, dass der Junge nirgends was Großes sieht, für das es sich lohnen könnte.

Als Nichtskönner und Schweiger hat er sich in der Zwischenzeit überall durch williges Anpacken durchgebracht. Zugleich hat ihn in der Liebe ein eitles Mädchen sehr gedemütigt, danach hatte er die Nase vom Lieben voll. Diese ganze Geschichte erzählt er nach seiner Rückkehr Mutter und Schwester, aber die verpassen alles, weil sie eingeschlafen sind. Immerhin sieht er ein, dass sein Schmollwesen ihn gehindert hatte, die Seichtheit jenes Mädels früher zu erkennen. Diese Erfahrung und eine Begegnung mit dem Löwen, dessen Haut er heimbringt, bringen ihn vom Schmollen ab. 12 Stunden haben er und Löwe einander angeschmollt… und knapp kam er mit dem Leben davon – weil andere zu seiner Rettung kamen. Jetzt will er sich und anderen das Leben angenehm machen.

Er zieht mitsamt der Familie in die Kantonshauptstadt und wird dort ein für alle angenehmer und nützlicher Mann.

Nagut, und wer soll sowas lesen? Ein schmollender Junge? Ein Null-Bock Junge? Warum nicht?

 JG-

Das Übrige ist nix für Cornelias Enkel:

Die Autobiographien sind unerheblich, denn besser wird sein Leben in seinen Figuren fassbar

Die misslungene Vergiftung

Gegensatz zwischen äußerer Ehrbarkeit und innerer Gemeinheit,  – wie bei den Gerechten Kammachern.

Geizige Apotheker versuchen, dem Heißhunger des Gehilfen entgegenzuwirken, indem sie die köstlichsten Früchte als Gift bezeichneten. Er sündigt mit dem Spanferkel, will sich vor lauter Schreck mit dem „Gift“ umbringen und…  genießt. Wird rausgeworfen. Nuja

Der grüne Heinrich

Ich begreife nicht, wie man sowas Kindern als Schullektüre aufdrücken kann. Es ist total wirr, so wirr im Ganzen wie die Malerei, die er immer so genau in all ihren Mängeln vorführt.

Anfangs tut es einfach weh, wie gnadenlos er seine Jugendsünden herzählt. Insofern ist das Buch für junge Kinder nützlich, weil man absolut deutlich das Zentralmotiv der Geltungssucht und Suche nach Anerkennung entdeckt, das den armen Jungen von einer Katastrophe in die nächste treibt.  Und gut beobachtet der Autismus eines Jungen, der auch beim Lieben nie über sich selbst rausgucken kann. Er hat ein bisschen Sinn für Integrität, durchaus, aber es reicht nie zum Einfühlen in andere. Das machen dann die Mädels.

Okay, da ist ein moralischer Gewinn. Aber teuer erkauft durch viel zu viel Text und Kram.

Es liegt eine Art Sadismus darin, wie er einen immer an der Nase in neue Hoffnungen führt und dann gnadenlos scheitern lässt. Dazu ständige Digressionen in Kunst, Politik, Religion, – brrr.

In gewisser Hinsicht ist das ein ganz moderner Roman, sofern er eine klare Linie verweigert und immer nur das Scheitern berichtet. Okay, am Ende ist Judith wieder da, die in der Liebe über sich rausgewachsen ist. Aber mehr als ein distanziertes Liebesverhältnis wird auch da nicht draus, dazu ist sie zu klug, um nochmal mehr zu wollen. Es bleibt alles ziemlich elend, und man ist mäßig dabei unterhalten worden.  Es gibt sogar richtig romantische Episoden, aber dann schmort unser Held wieder in sich selbst rum und aus nix wird nix.

Ich habe zum Ende hin nur noch überflogen, weil ich endlich eine Lösung haben wollte. Es ist ein sehr persönliches Buch Kellers, und schonungslos ehrlich, aber- ehrlich gesagt, so viel möchte ich von einem gefallenen und Erlösungs-unwilligen Menschen überhaupt nicht wissen.

Allerdings habe ich die zweite Spätfassung gelesen, nicht die wildere und finstere Erstfassung. Nu, Jacke wie Hose. Wie gesagt, um junge Leute über die Schäden der Großspurigkeit aufzuklären kann man einzelne Kapitel rausholen. Das ist überhaupt die Idee: aussuchen.

Die Leute von Seldwyla

Most striking diese absolut gottlose, Christ-vergessene Welt. After God schon damals.

„daß ich mit diesem gleichen Feuerbach fast alle Abende zusammen bin, Bier trinke und auf seine Worte lausche. […] Die Welt ist eine Republik, sagt er, und erträgt weder einen absoluten, noch einen konstitutionellen Gott (Rationalisten). Ich kann einstweilen diesem Aufrufe nicht widerstehen. Mein Gott war längst nur eine Art von Präsident oder erstem Consul, welcher nicht viel Ansehen genoss, ich musste ihn absetzen. Allein ich kann nicht schwören, dass meine Welt sich nicht wieder an einem schönen Morgen ein Reichsoberhaupt wähle. Die Unsterblichkeit geht in den Kauf. So schön und empfindungsreich der Gedanke ist – kehre die Hand auf die rechte Weise um, und das Gegentheil ist ebenso ergreifend und tief. Wenigstens für mich waren es sehr feierliche und nachdenkliche Stunden, als ich anfing, mich an den Gedanken des wahrhaften Todes zu gewöhnen. Ich kann dich versichern, dass man sich zusammennimmt und nicht eben ein schlechterer Mensch wird.“[27]

Info

Erscheinungsjahr19. Jh., 2. Hälfte
Seiten300-600
AutorKeller, Gottfried

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