
(1903 u.a. | 300 S.) Das ist ganz große Literatur. Wenn man Literatur möchte. Nur – ist sie irgendwo nützlich? Sicher für mich, denn in einigen dieser Geschichten wird mir klar, warum die russische Intelligenz so verzweifelt auf die Revolution wartete. Sie waren gefangen in einem Nicht-Leben, und dachten, es kann nur besser werden. Das war ein Irrtum.
Ich sehe auch an Chechov diesen Irrtum. Ich respektiere ihn auch als Menschen, denn es ist tiefes Mitleiden, was ihn zu all den schrecklichen Beschreibungen führt. Aber nie gibt es irgend einen Ausweg. So deprimierend wie bei Gottfried Keller.
Ich respektiere Chechov obwohl es mich schmerzt, wie sein humanitäres Gefühl ihn blind für alles andere macht. Alles wird schlechtgemacht von ihm, die bestehenden Verhältnisse. Nur die Propheten einer neuen Zeit, die Narren der Bürgerwelt bleiben, kommen vielleicht besser weg, und mit ihnen die idealistischen Verehrerinnen.
Cornelia
Meinung
Cornelia meint:
Der Bär
Exaltierte Witwe will untreuen toten Ehemann bestrafen, indem sie treu um ihn trauert. Diener versucht, sie ans Leben zu kriegen. Nachbar braucht vom Mann entliehenes Geld zurück, hat die Frauen dicke, ist grob und ein Bär. Trifft aber bei Popova auf einen Widerstand und einen Todesmut der Wut, der ihn begeistert. Kuß Schluß
Halt ein Schwank.
Der Heiratsantrag
Das geht beinah daneben, weil Kandidat von seiner Wiese spricht, die die Erwählte als ihre bezeichnet. Immerfort fangen sie an zu streiten. Brautvater versöhnt, aber sofort geht es um den Hund. Bis die Erwählte merkt, dass sie geheiratet werden soll. Aber gleich geht es wieder los. Dazwischen schafft Vater den Kuß und die Verlobung. Der Streit wird zum Ehestreit.
Lustig allenfalls für eine Hochzeit als humoristische Einlage…
Drei Schwestern
Schwer to make head or toes from it. Provinz. Die Schwestern gehören zur alten Welt der Vornehmheit, des Edelmuts. Olga kann Grobheit nicht ertragen. Alle drei sagen nichts, als Bruder Andrej das gemeinsame Haus verspielt. Mascha ist mit einem Lehrer verheiratet, den sie nicht mehr achtet, und den ihn mit einem Offizier betrügt – bis der abberufen wird. Dieser hat allerdings selbst noch eine Ehefrau, die sich laufend umbringt, um ihn zu erpressen, und 2 Töchter, aus erster Ehe, denen es nicht gut geht. Brr.
Andrej heiratet eine Natascha aus schlechterer Familie, die die alte Kinderfrau als unnütze Esserin rausgraulen will. Repräsentiert das kalte Herz der Neureichen. Olga nimmt diese Anfisa zu sich in die Direktricenwohnung, weil sie inzwischen Leiterin der Schule wurde. Natascha hat auch ein Verhältnis mit dem Chef ihres Mannes, was alle wissen.
Irina gibt endlich Baron Tussmanns Werben nach, der ein Leben der Arbeit will und darum den Militärdienst quittiert. Arbeit soll dem Leben einen Sinn geben. Auch Olga sieht im Lehren einen Sinn: später werden die Schüler mehr Kultur in diese Provinz bringen. Es ist hart, aber die Zukünftigen werden ein paar gute Worte für das ihnen von der Lehrerin dargebrachte Opfer haben. Irina aber wird nun aber leider zugleich von einem bösen Leutnant geliebt, der ihren Bräutigam im Duell tötet. So wird sie halt alleine Lehrerin. Im Haus ist inzwischen Natascha Alleinherrin.
Die ganze Zeit steht die Sehnsucht nach der Heimat Moskau und seiner Kultur Schwestern und Bruder vor Augen. Bruder hatte Professor werden wollen, alle hatten das unterstützt. Aber da wurde nie was draus. Die Garnison zieht ab, von jetzt an nur noch Langeweile.
Neben dem Blütentraum Moskau, der nur Illusion ist, der Hinblick auf die bessere Zukunft – oder wird sich alles immer gleichbleiben? Entweder man arbeitet, oder man verkommt im Trunk.
Bißchen arg Lebenssinn-fokussiert. Und arg weit weg von uns.
Der Kirschgarten 1903
Abschiede. Das Gut mit dem Kirschgarten wird versteigert werden. Der Kaufmann bietet Hilfe dabei, das Land samt Kirschgarten zu verpachten für Ferienvillen. Das würde alle Probleme lösen. Aber unvorstellbar für jene, deren Leben an diesen Kirschbäumen hängt. Diese ganze alte Klasse ist korrupt, liebenswert, lebensuntüchtig, dabei menschlich nett und barmherzig. Die neue Klasse ist nichts dergleichen. Dann gibt es noch den Studenten mit seinem humanistischen Fortschrittstraum, den Vorläufer des Kommunismus, und wieder die junge Adelige, die das aus Liebe und Idealismus mitmacht.
Ich kann nicht glauben, dass die Russische Gesellschaft so verrottet war. Aber alle besseren Geister haben das so empfunden. Die neue Humanität, die aus dem Westen als Aufklärung herüberschwappte, ließ kein gutes Haar mehr an der guten alten Zeit. Schrecklich.
Das Ur-Übel ist die Verschwendungssucht der Gutsbesitzerin Ranjevskaja, – schwach, sentimental, unverantwortlich. Die ist ein Dämon, die macht alles kaputt – und alle huldigen ihr, weil das sich so gehört.
Cechov spielt auf der Orgel von korrektem Schuldgefühl und Sündenstrafenbewußtsein. Aber zugleich macht er selbst diese ganze Gesellschaft schlecht. Die brave fromme Varja geht schließlich doch nicht, wie geplant, ins Kloster, hätte zu gern den Kaufmann geheiratet. Aber der kriegt irgendwie den Rang nicht dazu. Hängt als Ex-Leibeigener noch im Bauernstand, der jetzt über die einstigen Sklavenhalter gesiegt hat. Und warum heiratet er nicht? Er ist menschlich unfit – wie alle anderen. Nur ökonomisch ist er fit.
Seine Vision ist: Feriengäste, die die Villen mieten und am Ende in ihren Gärten Gemüse pflanzen. Eigentlich sehr vernünftig bäuerlich gedacht. Wenn er nur nicht so unfähig zum Heiraten wäre – das Gut hätte der Familie erhalten bleiben können! Andererseits Trophimof, der ewige Student und Prophet einer anderen Welt, – er schleppt Anja ab, und die beiden werden wohl Schiffbruch erleiden.
Was soll uns das hier und heute? Höchstens historisch interessant.
Die Möve
Naja, die ist ein Symbol der Befreiung aus der Gefangenschaft Ninas in einer unmöglichen Familienkonstellation. Sie will also fliegen und versteift sich auf die Schauspielerei, wobei sie sich von Konstantin, dem stets unerfolgreichen möchtegern-Schriftsteller löst und dem berühmten Schriftsteller Trigorin zuwendet. Wie in einer der Erzählungen über das Altwerden ist auch diese Frau bereit, den Höhenflug der Kunst zu wagen und endet missbraucht und alleingelassen mit einem Kind und enttäuschten Ersatzhoffnungen. Sie also scheitert, was Konstantin prophetisch vorhersieht, indem er ihr anfangs eine Möwe schießt, blödeste Idee, muss man sagen. Trigorin lässt diese Möve ausstopfen, weil verliebt, will aber später, nachdem er Nina fallenließ, davon nie mehr hören.
Okay, eine Leiche am Weg der Männer, der schlimmen Familie, der eigenen Illusionen.
Zugleich geht es um die Kunst.
Arkadina ist die alte Diva, sehr berühmt, besteht aber nur aus Eitelkeit und ruiniert damit das Leben von Sohn Konstantin, von dem sie immer nur Anbetung für sich will, wobei sie seine eigenen künstlerischen Bemühungen immer gleich kaputtmacht, also sein aufgeführtes Theaterstück lächerlich macht, bis er hinschmeißt.
Konstantin also sehnt sich nach Anerkennung, aber die Mascha-Tochter seines Gutsverwalters nimmt er so lange nicht wahr, bis dieselbe klugerweise den ungeliebten Lehrer heiratet, den sie dann aber unglücklich macht, indem sie sich um das Kindchen nicht kümmert, sondern lieber bei den Eltern mitmischt, wo der Lehrer nie anerkannt wurde. Der ist das große Opfer, der einzig Liebende.
Ich weiß wirklich nicht, was dieses Bild des Elends uns heute soll.
Naja, in der Rezension einer Theater-Aufführung in London wird hochgelobt, dass der Abend den „oft beschwiegenen Sinneskonflikt zweiter Generationen, die sich fremd sind. „von einer Jugend, die den Schmerz früher kennenlernt als die Liebe, und einem Alter, das sich mit falscher Ironie gegen das richtige Lebensgefühl wehrt.“ Okay, wenn man sein eigenes Verfehltsein gern gespiegelt kriegt – schön.
Info
Erscheinungsjahr | 20. Jh., 1. Hälfte |
Seiten | 300-600 |
Autor | Tschechow, Anton |
Kommentar zu: Tschechow, Anton – Dramen.