… beginnt das Christentum.

Einige Überlegungen zum grundlegenden Unterschied zwischen der „Weltreligion Christentum“ und der Ekklesia, oder: Was ist allein in der Orthodoxie zu finden – und nirgendwo sonst?

Dies ist der Text eines Vortrags, der für die DOM Herbsttagung 2020 vorgesehen war, die jedoch wegen der Corona-Maßnahmen erst einmal verschoben werden mußte.

Dieser Text erscheint in der Zeitschrift „Der schmale Pfad“ Nr. 74 (Dezember 2020).

Der Vortragstext hier zum Nachlesen

Nirgendwo im Neuen Testament kann man das Wort „Christentum“ finden. Dafür taucht der Begriff „Kirche“ (ekklesía, auch „Gemeinde“) mehr als einhundertmal auf. In der berühmten Stelle Mt 16,18 sagt der Herr Jesus Christus explizit: … auf diesen Felsen will Ich Meine Kirche bauen (mou tin ekklesían). Christus ist also nicht der Gründer des Christentums, sondern der Erbauer der Kirche. Wie die ekklesía durch das Pfingstgeschehen ins Leben trat, davon berichten die ersten Kapitel der Apostelgeschichte. Der Begriff ekklesía erscheint beispielsweise in Apg 5,11, als nach dem unglücklichen Geschehen mit Hananias und Sapphira große Furcht über die ganze Kirche (hólin tin ekklesían) kam, oder, als eine schwere Verfolgung über die Kirche (ekklesían) in Jerusalem hereinbrach (Apg 8,1).

Ein anderer Begriff, der ebenfalls recht häufig verwendet wird und die frühe Kirche charakterisiert, ist koinonía, Gemeinschaft: Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft (koinonía) am Brechen des Brotes und an den Gebeten (Apg 2,42). Die Zugehörigkeit zur ekklesía war also dadurch bestimmt, daß die Gläubigen an der apostolischen Lehre festhielten, an der Heiligen Kommunion, am Abendmahl teilnahmen – die Heiligen Väter verstanden unter dem „Brotbrechen“ stets die Heilige Kommunion – und ein Leben des Gebets führten. Zudem zeichnete sich die frühe Kirche durch Liebe und Einmütigkeit ihrer Mitglieder aus: Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam (koiná)(Apg 4,32). Man kann daher sagen, daß die koinonía das grundlegende Ethos der frühen Kirche war. 

Der Eintritt in die Kirche erfolgte durch die Taufe, dem Gebot des Herrn gemäß: Darum geht zu allen Völkern… tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes (Mt 28,19). In einer Reihe von Beispielen wird das in der Apostelgeschichte verdeutlicht. Nachdem der äthiopische Kämmerer, ein Hofbeamter der Königin Kandake, durch den Apostel Philippus in das Evangelium eingeführt wurde, läßt er sich sofort von diesem taufen. Als Saulus nach der Begegnung mit dem Herrn auf der Straße nach Damaskus blind in einem Haus liegt und ihm Hananias (ein anderer Hananias, ein Jünger), vom Herrn dazu aufgefordert, die Hände auflegt, fiel es wie Schuppen von seinen Augen, und er sah wieder; er stand auf und ließ sich taufen (Apg 9,18). Und aus dem Christenverfolger Saulus wird der große heilige Apostel Paulus, der dann später die ekklesía als Leib Christi mit vielen verschiedenen Gliedern, doch gekennzeichnet durch denselben einen Geist beschreibt: So aber gibt es viele Glieder und doch nur einen Leib (1 Kor 12,11-31).

Als sich derselbe große Apostel genötigt sieht, seine Ortskirche in Korinth zu einer würdigen Teilnahme am Mahl des Herrn, also an der Heiligen Kommunion, zu ermahnen, schreibt er vorwurfsvoll: Oder verachtet ihr die Kirche Gottes? (tis ekklesías tou theou)(1 Kor 11,22). Damit ist wiederum die eine Gesamtkirche gemeint, der Leib Christi, wie er im folgenden Kapitel ausführt.

Die frühe Kirche hat also eine klar umrissene Struktur. Sie unterscheidet sich von allen anderen menschlichen Organisationen und Institutionen. Sie ist keine Religion wie die Religionen der Welt, sondern der einzige existierende gottmenschliche Organismus. In diesem Organismus sind diejenigen, die Christus, den Logos, das Wort Gottes, aufnahmen und denen Er Vollmacht gab, Kinder Gottes zu werden, denen, die an Seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott gezeugt wurden (Jh 1,12). Und in Seinem nächtlichen Gespräch mit Nikodemus konkretisiert der Herr die neue Geburt aus Wasser und Geist (Jh 3,1-21). Aber damit das neugeborene Leben auch lebendig bleibt und gedeiht, bedarf es der Speise. Diese Speise ist der Leib und das Blut Christi selbst: Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes esset und Sein Blut trinket, habt ihr kein Leben in euch. Wer Mein Fleisch ißt und Mein Blut trinkt, hat ewiges Leben (Jh 6,53-54). Es ist die Speise und der Trank der Heiligen Kommunion, die von Christus am Heiligen Donnerstag, am Abend vor Seiner Kreuzigung, eingesetzt wird: Nehmet, esset; dies ist Mein Leib… Trinket alle daraus. Denn dies ist Mein Blut des neuen Bundes… (Mt 26,26-28). Die Heilige Kommunion ist daher zugleich wahre Speise der Gläubigen und die Verwirklichung des neuen Bundes, der nicht eine irgendwie vage, individuelle, subjektive Vereinbarung mit Gott ist, sondern die konkrete, objektive, gemeinschaftliche Teilnahme am Mysterium der Eucharistie. 

Der Leib Christi, die Kirche, besteht somit aus Gliedern, die sich alle von dem einen Leib Christi ernähren, der in der Heiligen Kommunion gereicht wird, und die dasselbe Blut Christi zu sich nehmen, das dann, wie das Blut in einem menschlichen Organismus, in den einzelnen Gliedern desselben Leibes fließt. Dies ist die Realisierung der mystischen Vereinigung mit Christus, dem Gottmenschen, und durch Ihn mit dem Heiligen Geist und Gott dem Vater, der ganzen Allerheiligsten Dreiheit.

Um diese mystische Vereinigung aufrechtzuerhalten, ist es nötig, alles zu bewahren, was Ich euch geboten habe (Mt 28,20), und was die Jünger, die heiligen Apostel lehrten, und wie der Rebzweig am Weinstock – Christus – zu bleiben (Jh 14,1-8), wobei man im Bild vom Weinstock und den Rebzweigen wiederum einen Hinweis auf die Heilige Kommunion sehen kann; denn es ist ja derselbe Saft, der im Weinstock und in den Rebzweigen fließt, und der Bezug zum Leib Christi (Weinstock) und zum Blut Christi (Wein) ist klar gegeben.

Der hl. Paulus und die anderen Apostel im Neuen Testament, und später dann ihre Nachfolger, die in demselben Geist lehrten, die Heiligen Väter der Kirche, erläuterten und vertieften all dies noch auf katholische, allumfassende Weise. Sie alle gehörten als Glieder zur ekklesía, zu derselben einen Kirche, die Christus erbaut hat, und in der Er Selbst ist alle Tage bis zur Vollendung des Weltalters (Mt 28,20). Alles, was notwendig ist, um den schmalen Pfad der Rettung sicher zu beschreiten und zum Ziel zu gelangen, haben sie vielfach erläutert und konkretisiert. Und so sehen wir bis in die jüngste Zeit hinein und auch heute, wie Menschen, die zu derselben Kirche gehören, in ihrem Geist leben, dieselbe Heilige Kommunion empfangen, und alles bewahren, was Christus geboten hat und die Apostel lehrten, vereint mit Christus, heilig wurden und heilig werden. Diesen Vorgang nennt die Kirche „Theosis“, Vergöttlichung oder Gottwerdung. Er beginnt mit der Reinigung der gefallenen Menschennatur, geht über in die Erleuchtung des inneren Auges der Seele, des Nous, und mündet in einem Maß von Vollkommenheit, das der hl. Paulus als vollendete Gestalt Christi (vgl. Eph 4,13) bezeichnet. Es ist ein therapeutischer Weg, der in der Kirche stattfindet, bewirkt durch die Teilnahme an den Heiligen Mysterien und durch eigenes, von der Gnade Gottes geleitetes und gestütztes Bemühen (gr. askesis). Die Kirche, in der dieses geschieht, ist dieselbe, gestern, heute und morgen, genauso wie Christus Derselbe gestern und heute und morgen ist (Hebr 13,8). Es ist die Orthodoxe Kirche, die die Bezeichnung „orthodox“ erst annahm, als sie sich gegenüber anderen, nicht-orthodoxen, häretischen Strömungen abgrenzen mußte.

Diese Wahrheit wurde auch in das Glaubensbekenntnis von Nikäa-Konstantinopel aufgenommen und ist genauso fundamental wie der Glaube an Gott Vater, Gott Sohn und Gott den Heiligen Geist. Wenn wir das Glaubensbekenntnis sprechen oder singen, bekennen wir darin nicht den Glauben an „das Christentum“, sondern an die Eine, Heilige, Katholische („allumfassende“) und Apostolische Kirche, die, wie historisch, theologisch, kanonisch und spirituell bewiesen werden kann, mit der Orthodoxen Kirche identisch ist.

Der Begriff „Christentum“ (gr. Christianismós) spielt in der frühen Kirche keine Rolle und taucht erst später auf, zum ersten Mal in einem Brief des hl. Ignatius von Antiochien als Abgrenzung gegen Ioudaismós (Judentum) und Hellenismós (Griechentum, also Heidentum). Das deutsche Wort Kristentûm erscheint zum ersten Mal bei Walther von der Vogelweide, also erst um 1200 n. Chr.

In den Schriften der Kirchenväter taucht der Begriff des Christentums, soweit ich weiß, nicht oft auf, und wenn, dann als identisch mit der Kirche. Christentum ist die Glaubenspraxis und das Leben der ekklesía. Außerhalb der Kirche und ohne die Kirche ist christliches Leben, Christentum, nicht möglich. Nach dem hl. Kyprian von Karthago kann es außerhalb der Kirche kein Christentum geben; ihm gemäß ist es unmöglich, außerhalb der Kirche zu sein und noch Christ zu bleiben: „Ganz gleich, wer oder was er ist, er ist kein Christ, sobald er nicht in der Kirche Christi ist.“1 Berühmt ist sein Ausspruch: „Wer die Kirche nicht als Mutter hat, kann Gott nicht zum Vater haben.“ Der hl. Neumärtyrer Metropolit Ilarion Troickij faßt in seinem Aufsatz „Christentum oder die Kirche?“ die Lehre der Kirchenväter folgendermaßen zusammen: „Ein Christ zu sein, bedeutet, zur Kirche zu gehören, denn Christentum ist genau die Kirche. Außerhalb der Kirche ist kein Leben, und es kann dort auch keins sein.“2 Anders gesagt, außerhalb der Kirche gibt es keine Rettung, kein Heil, keine Erlösung.

Genau dies ist auch im Glaubensbekenntnis von Nikäa-Konstantinopel ausgesagt, das für die Kirche verbindlich ist und das, wie gesagt, vom Glauben an die „Eine, Heilige, Katholische (allumfassende) und Apostolische Kirche“ spricht – nicht vom Christentum (dieses Wort taucht gar nicht auf) –, und dies ist daher auch die Grundlage des Glaubens eines jeden orthodoxen Gläubigen. Er glaubt nicht an irgendein Christentum, sondern konkret an die Kirche, an die Orthodoxe Kirche. Doch glaubt er wirklich an sie?

Und hier beginnt nun die Problematik der heutigen Zeit. Es besteht allgemeiner öffentlicher Konsens darüber, daß das Christentum heutzutage eine der großen Weltreligionen ist, sogar die mit geschätzten 2,3 Milliarden Anhängern zahlenmäßig am weitesten verbreitete. Diese Weltreligion umfaßt zahlreiche heterogene Konfessionen, die sich, grob gruppiert, folgendermaßen zusammenfassen lassen: die römisch-katholische Kirche (ca. 1,2 Milliarden Mitglieder) die orthodoxen Kirchen (geschätzt 300 Millionen Mitglieder), die protestantischen und reformierten Kirchen (mehr als 400 Millionen Mitglieder), die anglikanischen Kirchen, die Kopten und die anderen altorientalischen Kirchen, die Freikirchen und die Pfingstbewegung. Die Anhängerzahl der letzteren beträgt nach einer offiziellen Schätzung aus dem Jahr 2000 etwa 537 Millionen (66 Millionen klassische Pfingstler, 176 Millionen aus dem Charismatic Movement, 295 Millionen aus der Third Wave), nach neueren Schätzungen sind es 600 Millionen. Jedenfalls sind allein die Anhänger der Pfingstbewegung gegenüber den Orthodoxen weit in der Überzahl.3

Bei genauerer Betrachtung ergibt sich eine unüberschaubare Menge an verschiedenen Konfessionen (auch „Denominationen“ genannt) – man schätzt 42.000 –, die sich untereinander oft erheblich und grundlegend unterscheiden in bezug auf Glaubenstraditionen, liturgische Praxis, Wertvorstellungen, Zielsetzungen usw. Ihnen gemeinsam ist, daß sie sich alle als „Kirche“ bezeichnen, sich irgendwie auf Jesus Christus als zentrale Gestalt und auf die Bibel beziehen und gewisse Riten, allerdings auf unterschiedliche Weise, vollziehen, z. B. die Taufe, das Abendmahl, die Eheschließung.

Nach gängiger Auffassung, die vor allem auf den Protestantismus zurückgeht, bildet nun dieses ganze, extrem heterogene Gebilde, genannt „Weltreligion Christentum“, die Ekklesia, den mystischen Leib Christi. Um der mißlichen Tatsache zu begegnen, daß die Glieder dieses vorgeblichen Leibes dermaßen untereinander zerstritten und gespalten sind und sich zum Teil erheblich voneinander unterscheiden, sich sogar oft genug blutig bekriegt haben, hat man die Lehre von der „unsichtbaren Kirche“ entwickelt, die alle Christen umfaßt, ganz gleich, zu welcher Konfession sie gehören. In die gleiche Richtung geht die protestantische Lehre von den vielen verschiedenen Zweigen der Gesamtkirche, die sogenannte „Zweigtheorie“.

Es ergibt sich ein Bild, das dem der frühen apostolischen Kirche diametral entgegengesetzt ist: Dort die eine, sichtbare, reale Kirche, getragen von einem und demselben Geist, wie der hl. Paulus schreibt: Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen… und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt (1 Kor 12,13) – hier eine Vielzahl verschiedener „Christentümer“, die zusammen eine imaginäre „unsichtbare“ Kirche bilden sollen. Wir sehen im Lauf der Geschichte daher ein immer weiteres Auseinanderdriften dessen, was sich „Christentum“ nennt, und der ursprünglichen Kirche. Die verschiedenen „Christentümer“ erscheinen dabei als scheinbar legitime Variationen des „Christentums“ untereinander mehr oder weniger gleichrangig; und man versucht heutzutage, sich mit gegenseitigem Respekt, Toleranz und Offenheit zu begegnen. Infolge des Ökumenismus ist es auch in Kreisen der Orthodoxie üblich geworden, vom „orthodoxen Christentum“ (im Unterschied zum „protestantischen“ oder „römisch-katholischen Christentum“) zu sprechen, so, als gäbe es eben verschiedene „Christentümer“, und das orthodoxe wäre nur eine mögliche Ausprägung, eine Variante im gesamten Spektrum. Damit aber hat man sich auf entschiedene Weise von der Lehre der Kirche des ersten Jahrtausend entfernt, derzufolge es unmöglich gewesen wäre, die verschiedenen Abspaltungen, Gruppierungen, Sekten und Häresien als gleichwertige „Christentümer“ neben dem „Christentum“ der Einen, Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche anzuerkennen.

Man könnte sagen, daß der Protestantismus im Erreichen seines Ziels weit fortgeschritten ist, nämlich, wie es der hl. Justin von Serbien formuliert, daß jeder Protestant sein eigener Papst ist, d. h. die Bibel nach eigener Auffassung interpretiert und seine Glaubenspraxis dementsprechend einrichtet, so daß es, konsequent zu Ende gedacht, letztlich so viele „Christentümer“ gibt, wie es Christen gibt. Jedem sein eigenes Christentum. Oder, wie es der Freimaurer Friedrich II. von Preußen ausdrückte: „Jeder soll nach seiner Façon selig werden.“ Doch jedes „Christentum“ ohne die Kirche verwandelt sich über kurz oder lang in Humanismus, denn dann ist es der Mensch, welcher bestimmt, was das „Christentum“ zu sein hat. Der Mensch in seiner Gefallenheit, in seiner ontologischen Erkrankung, wird zum Bestimmungsgrund und Auswahlkriterium der Offenbarung, die er seinen Bedürfnissen entsprechend anpaßt. Nicht mehr der Gottmensch und die Vergöttlichung des Menschen stehen im Mittelpunkt, sondern allein der Mensch, eingebunden in einen Wertekanon, der mit dem aller Humanismen kongruiert. Ein vermeintlich „christlicher“ Säkularismus ist die Folge.

Es ist von größter Bedeutung für die Orthodoxie, sich gegen diese Auffassung zu verschließen und fest in der „Jenseitigkeit“ des christlichen Weges in der Lehre der Heiligen Väter gegründet zu bleiben. Von daher sollte sie nicht die Bezeichnung „orthodoxes Christentum“ übernehmen, so, als wäre sie nur eines von vielen möglichen „Christentümern“. Nein, das Christentum ist identisch mit der Orthodoxen Kirche, und die Orthodoxe Kirche ist identisch mit dem Christentum; außerhalb davon gibt es kein Christentum, wie wir anfangs gezeigt haben. Und somit gibt es auch keine verschiedenen „Christentümer“.

Dennoch ist es eine Tatsache, vor der man ebensowenig die Augen verschließen kann, daß von den 2,3 Milliarden Menschen, die sich nominell als Christen bezeichnen würden und offiziell zum „Christentum“ gehören, nur ca. 300 Millionen Mitglieder der Orthodoxen Kirche sind, und, wer weiß, wie viele von diesen wiederum ein aktives Leben der Heiligung dem orthodoxen spirituellen Leben gemäß führen. Es ist auch eine Tatsache, daß viele der übrigen 2 Milliarden Christen ein wesentlich bewußteres christliches Leben als ein Großteil der Orthodoxen führen. Sie beten, sie bekennen ihren Glauben, für den sie in vielen Ländern blutige Verfolgungen bis hin zum Tod erleiden, sie missionieren, sie nehmen an Gottesdiensten teil, tun gute Werke der Nächstenliebe, sind sozial engagiert, setzen sich für die Schwachen und Notleidenden ein, haben Gottvertrauen, leben enthaltsam, fromm und Gott ergeben, haben Hoffnung auf das ewige Leben nach dem Tod, wollen in den Himmel kommen. Viele von ihnen würden vorbehaltlos bekennen, daß sie Jesus Christus lieben. Manche berichten von intensiven, lebensverändernden Begegnungen mit Jesus, von Wundern und Heilungen, von der plötzlichen Rettung aus zerstörerischen Süchten, von Hilfe in der Not, die aufgrund von Gebeten eintrat (wie auch immer man das alles bewerten mag). Kann man ihnen pauschal absprechen, „Christen“ zu sein – so, wie es der hl. Kyprian von Karthago im dritten Jahrhundert tat –, nur weil sie nicht zur Orthodoxen Kirche gehören und oftmals von ihrer Existenz überhaupt noch nichts erfahren haben?

Ich möchte nun an dieser Stelle ein paar Sätze über meinen persönlichen Weg einschieben, da er als Beispiel für das Verhältnis zwischen Christentum und Kirche dienen kann. Ich bin in einer in religiöser Hinsicht zunächst eher indifferenten Umgebung aufgewachsen. Zwar wurde ich evangelisch-lutherisch getauft, war also formal „Christ“, doch bei meinen Eltern und in der Schule gab es keine christliche Praxis oder Unterweisung, nicht einmal Gebete. Meine starke Liebe zur Natur war die Grundlage eines selbstverständlichen Glaubens an Gott als Schöpfer aller Dinge, ein Glaube, der, wenn ich mich recht erinnere, nie ernsthaften Zweifeln ausgesetzt war, auch nicht, als ich mich in jugendlicher Faszination den Naturwissenschaften zuwandte. Erst als ich mit ungefähr 13 Jahren in eine persönlichere Beziehung mit meinem Großvater eintrat, der gläubiger Siebentags-Adventist war, kam ich in Berührung mit der Bibel, die mich sofort stark anzog und beschäftigte. Ich las das Neue Testament und Teile des Alten; es erwachte in mir Liebe zu Christus, begleitet von einigen für mich wichtigen religiösen Erfahrungen. Ich las auch viele andere christliche Bücher, vor allem von evangelikalen Verfassern. Doch ich fand kein kirchliches Zuhause. Die protestantische Kirche erschien mir öde und nichtssagend, zum Katholizismus hatte ich, auch aufgrund der massiven Ablehnung der römisch-katholischen Kirche und des Papsttums seitens meiner Eltern und auch meines Großvaters, keinerlei Beziehung, und in der adventistischen Gemeinde meiner Großeltern fühlte ich mich nicht wohl. Ich fand die Atmosphäre dort „spießig“, eng und bieder. Später wandte ich mich der Philosophie und Psychologie zu, fand andere Religionen und esoterische Spiritualität faszinierend, suchte mein Heil in der Kunst, vor allem in der Musik, und entfernte mich immer weiter vom Geist meiner frühen christlichen Phase. Mit 19 Jahren trat ich aus der evangelischen Kirche aus, nach dem Besuch eines evangelischen Kirchentags, auf dem ich nichts anderes vorfand als soziales, humanistisches, politisches Engagement, abgesehen von einer Aufführung der h-moll Messe von Johann Sebastian Bach. Von jener Spiritualität, nach der ich mich tief im Inneren sehnte, keine Spur. Und so vergingen weitere, fast zwanzig Jahre, bis mein Weg nach zahlreichen weltanschaulichen Windungen schließlich in die Orthodoxe Kirche führte. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal die kleine russische Kapelle in Hannover betrat, um an einer Liturgie teilzunehmen, und ich sofort das intensive Gefühl, die Gewißheit, verspürte, endlich zu Hause angekommen zu sein. Ich wurde in der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland Katechumene und knapp ein Jahr später getauft. Die Erfahrung der Taufe und der ersten Heiligen Kommunion kann ich nur als wesenhafte Veränderung in meiner Seele beschreiben. Es war fundamental anders als alles, was ich in meinem bisherigen Leben erfahren hatte. Ich erfuhr konkret den grundlegenden Unterschied zwischen dem „Christentum“, auch meiner intensiven christlichen Phase in meiner Jugend mit ihrem recht gründlichen Bibelstudium, und der Erfahrung der wahren und einzigen Kirche Christi. Die orthodoxe Taufe war etwas völlig anderes als die protestantische, die ich als Kind erhalten hatte; sie war eine tatsächliche, reale und spürbare neue Geburt, eine ontologische Veränderung meines Wesens. Sie war ein Mysterium, aber ein konkretes, greifbares und zugleich ungreifbares Mysterium, gewissermaßen ein spiritueller „Quantensprung“.

So also erfuhr ich den Unterschied zwischen dem, was man im allgemeinen „Christentum“ nennt, und dem wahren mystischen Leib Christi, der mit der Orthodoxen Kirche identisch ist.

„Orthodoxie ist die Gegenwart des Ungeschaffenen in der Welt und der Geschichte, sowie das Potential des Geschaffenen, geheiligt zu werden und die Vergöttlichung (theosis) zu erlangen“, wie es Erzpriester Prof. Georgios Metallinos formuliert4, und genau diese Erfahrung machte ich und mache ich noch immer, nun nach 24 Jahren, in jeder Göttlichen Liturgie und in allem, was genuin orthodox ist.

Genauso, wie der Begriff „orthodoxes Christentum“ irreführend ist, so ist es auch der Begriff „orthodoxe Spiritualität“. Es gibt orthodoxes geistliches Leben, und in dessen Zentrum steht der Empfang der Heiligen Mysterien, allen voran der Heiligen Kommunion. Orthodoxes geistliches Leben ist kirchliches Leben, genauso, wie es das Leben der Urkirche in Jerusalem war, in dessen Zentrum das „Brotbrechen“, die Heilige Kommunion, stand.

Um dem terminologischen Dilemma zwischen „Christentum“ und „Kirche“ zu entkommen, bin ich geneigt, den Begriff „Christentum“ den „anderen“ zu überlassen. Sie haben ihn usurpiert und beanspruchen ihn für sich, ganz gleich, wie weit sie sich von der Ekklesia entfernt haben, und wir können uns nicht gegen zwei Milliarden zur Wehr setzen. Daher ist mein Vorschlag, daß sich die Orthodoxe Kirche vom „Christentum“ distanziert und zum Sprachgebrauch des ersten Jahrhunderts und des Neuen Testaments zurückkehrt, in dem dieses Wort gar nicht vorkommt. Nach diesem Vorschlag belassen wir das, was allgemein als „Christentum“ bezeichnet wird, bei seiner Selbstdefinition als Weltreligion, als eine der Religionen dieser Welt. „Religion“ kommt von „religare, religo“ – anbinden, zurückbinden. Religion ist der vom Menschen ausgehende Versuch, sich an Höheres, Göttliches, an andere Wirklichkeiten zurückzubinden. Alle Religionen sind aus diesem Bestreben entstanden, so verzerrt und durchsetzt von Imagination, kollektiven Phantasien und dämonischen Einwirkungen sie auch sein mögen. Doch Christus kam in die Welt, um das „verlorene Schaf“ zu suchen; die von Ihm erbaute Kirche ist der Ort, in dem die Begegnung des lebendigen, wahren Gottes mit dem Menschen stattfindet, der Ort der Heilung der Menschennatur durch die ungeschaffenen Energien Gottes; der Ort der Vergöttlichung. Die Kirche ist keine Religion; im Gegenteil, sie ist die Heilung von der „Krankheit der Religion“, wie es Prof. Ioannis Romanidis formuliert.

Man kann die Grenze zwischen Christentum und Kirche genau markieren. Die Demarkationslinie befindet sich am Beginn der Cherubimhymne in der Göttlichen Liturgie: „Wir bilden die Cherubim geheimnisvoll ab…“ Diese Hymne vor dem großen Einzug, bei der der Zelebrant weihräuchert, ist der mystische Schleier, der Vorhang zum Allerheiligsten. Durch ihn hindurch treten wir in das Mysterium der Inkarnation, der Fleischwerdung des Logos, ein. Wir werden auf die Ebene der Cherubim, der höchsten Engel, erhoben und erwarten die reale Begegnung und Vereinigung mit Christus in der Heiligen Kommunion. Was geschieht diesseits jener Grenze? Die Liturgie beginnt mit Bittektenien und Lobpreisungen. Die ersten beiden Antiphone sind den Psalmen entnommen, erklangen also auch schon in der jüdischen Synagoge. Die Ektenien bestehen aus allgemeinen Bitten, die mehr oder weniger auch von jenen, die außerhalb der Orthodoxen Kirche sind, vorgebracht werden. Dann, in der dritten Antiphon, erscheint das Bekenntnis zu Christus als dem einziggeborenen Sohn und Logos Gottes, Seiner Fleischwerdung aus der Immerjungfrau Maria, Seiner Kreuzigung, durch die Er den „Tod durch den Tod vernichtet“ hat, Seiner Wesensgleichheit mit dem Vater und dem Heiligen Geist. Das ist schon spezifischer, könnte aber auch von vielen anderen christlichen Konfessionen geteilt werden. Es folgen Hymnen (Tropare und Kontakien, das „Dreimalheilig“), Lesungen aus den Apostelbriefen und den Evangelien, und auch dies alles gehört mehr oder weniger zum allgemeinen Fundus der Christenheit. Aber nun folgt ein entscheidender Einschnitt: Es wird für die Katechumenen gebetet und sie werden hinausgeschickt – jedenfalls war es ursprünglich so vorgesehen –, denn sie dürfen noch nicht am zweiten Teil der Liturgie, am Mysterienteil, teilnehmen. Und nicht nur den Katechumenen, sondern auch jenen, die unter bestimmten Bußauflagen standen (Epitimien), war die Teilnahme an dem, was hinter dem „Schleier“ der Cherubimhymne kommt, verwehrt. Also allen Nichtgetauften und nicht vollständig mit der Kirche vereinten Menschen. Diese Zäsur ist von entscheidender Bedeutung, und es zeugt von mangelndem mystagogischem Verständnis der Liturgie, wenn die Katechumenektenie und das Herausschicken der Katuchumenen heute vielerorts ausgelassen wird: Denn auch wenn ein reales „Hinausschicken“ kaum noch durchgeführt wird, ist die Mystagogie dieses Vorgangs von größter Bedeutung. Alle, die nicht vollvereinte Mitglieder der Orthodoxen Kirche, Glieder des mystischen Leibes Christi, sind, bleiben von der Heiligen Kommunion ausgeschlossen. Somit haben sie keinen Anteil an Christus, wie der Herr Selbst sagt: Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes esset und Sein Blut nicht trinket, habt ihr kein Leben in euch (Jh 6,53).

Die Göttliche Liturgie gipfelt nach dem Bekenntnis des Glaubens (eben auch an die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche) in der Verwandlung der Gaben durch den Heiligen Geist in den wahren Leib und das wahre Blut Christi; es handelt sich also um eine wirkliche erneute Inkarnation, eine Fleischwerdung Gottes. Es geschieht etwas, das dem durchaus ähnlich ist, was im Leib der Allerheilligsten Gottesgebärerin geschah: Sie wurde vom Heiligen Geist überschattet, und Gott der Logos wurde Fleisch. Hier nun wird der Heilige Geist angerufen, die Gaben des Brotes und des Weines in den wahren Leib und das wahre Blut Christi zu verwandeln – und es geschieht das Unbegreifliche, doch wiederum Reale: Brot und Wein werden zum wirklichen Fleisch und wirklichen Blut Christi. Darauf folgt die Teilnahme der Gläubigen an der Heiligen Kommunion. Wie bedeutsam diese Teilnahme ist, zeigt sich daran, daß nach Kanon VIII und IX der Heiligen Apostel4 die Teilnahme an der Kommunion für die in der Göttlichen Liturgie Anwesenden verbindlich ist, es sei denn, sie sind durch gravierende Umstände daran gehindert oder unterliegen einer Epitimie. Die häufige, kontinuierliche Kommunion ist der Standard, die Norm der Kirche, wie es z. B. der hl. Nikodemos vom Berg Athos detailliert ausführt5. Ausnahmen, wie die hl. Maria von Ägypten, hier anzuführen, sind irrelevant, und auch der hl. Maria, die durch ihre extreme Askese bereits eine unvorstellbar hohe Stufe der Heiligkeit erlangt hatte, war es das dringendste Anliegen, vor ihrem Tode an den Heiligen Mysterien teilzunehmen; vielen Wüsteneinsiedlern wurde die Kommunion durch Engel gereicht.

Für mich, auf meinem langen Weg zur Orthodoxie, waren die zitierten Worte aus dem Johannes-Evangelium der entscheidende Hinweis. Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes esset und Sein Blut nicht trinket, habt ihr kein Leben in euch (Jh 6,53). Was ist hier mit „Leben“ gemeint? Sicherlich nicht das irdische Leben, denn dieses funktioniert ja auch ohne Teilnahme am Fleisch und Blut des Menschensohnes. Es geht um das „ewige Leben“: Wer Mein Fleisch ißt und Mein Blut trinkt, hat ewiges Leben (Jh 6,54). Es geht um ein Leben, das völlig verschieden ist von dem, was wir gewöhnlich unter „Leben“ verstehen, um einen ontologisch anderen Zustand, denn das irdische Leben ist vom Tod durchdrungen, und es endet in Tod und Verwesung. Das ewige Leben nicht. Und so entstand sofort in mir die Frage: Wo finde ich das wahre Fleisch, das wahre Blut Christi, damit ich es zu mir nehmen kann, um ewiges Leben zu erhalten? Wo kann ich mich darauf verlassen, daß im Abendmahl, das alle christlichen Konfessionen auf irgendeine Art feiern, tatsächlich der reale Leib und das reale Blut Christi erhältlich sind? Wo ist dieser ungeheuerliche Vorgang, den Christus Selbst im Heiligen Abendmahl vor Seiner Kreuzigung einsetzte und der als Seine fortgesetzte Inkarnation von damals bis heute geschieht, in seiner ursprünglichen, authentischen Form existent, eingebunden an zentraler Stelle in Seinen mystischen Leib, der wahren Kirche? Und, um es abzukürzen, als Ergebnis meiner Suche und Erforschung wurde mir klar, daß allein die Orthodoxe Kirche der authentische Hüter, Bewahrer und Erfüller des Mysteriums der Heiligen Eucharistie ist. Außerhalb des einen Leibes Christikann es keine wahre Kommunion geben, weil die Kommunion des Leibes und des Blutes Christi mit dem Leib Christi identisch ist. Es kann mancherlei Phänomene geben, Frömmigkeit, Gebetserhörungen, Liebe zu Christus, Aufopferung, religiöse Gefühle und Erlebnisse – das ist nicht zu bezweifeln und trifft mehr oder weniger auf alle Religionen zu. Doch die wahre Kommunion, das ontologische Fundament der Vergöttlichung des Menschen, gibt es dort nicht. Christi Leib ist einer, nicht zwei, nicht viele verschiedene, nicht 42.000.

Die zweite Hälfte des 6. Kapitels des Johannes-Evangeliums, besonders ab Vers 53, ist wahrhaft furchterregend, was auch die Jünger spürten, von denen viele sich zurückzogen und nicht mehr mit Ihm wanderten (vgl. Jh 6,66): Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes esset und Sein Blut nicht trinket, habt ihr kein Leben in euch (Jh 6,53). Die vielen eindringlichen Wiederholungen in diesem Abschnitt verdeutlichen den Nachdruck, den Christus auf die Kommunion Seines wahren Leibes und Blutes legt. Die Heilige Kommunion ist kein Bonus, keine Praline, nicht irgendein Beiwerk in einem ansonsten irgendwie nach christlichen Werten ausgerichteten Leben, sondern sie ist das Zentrum, das Herz des Lebens in der Nachfolge Christi selbst; sie ist die unabdingbare Voraussetzung zum ewigen Leben und das Mittel zur Vergöttlichung, wie es der hl. Symeon der Theologe im 7. Gebet vor der Heiligen Kommunion zum Ausdruck bringt: „… denn wer die Gnadengaben empfing, die göttlich sind und vergöttlichen, der ist nicht mehr allein, mein Christus, sondern mit Dir…“ Und genau hier geschieht die Scheidung zwischen Orthodoxie und Nichtorthodoxie. Die Orthodoxie hat die wahre Kommunion, die Nichtorthodoxie hat sie nicht.

Bei einer solchen Aussage wird sich freilich erheblicher Protest seitens der Nichtorthodoxen erheben. Wie willst du uns das beweisen, werden mich die anderen Konfessionen fragen, daß es nur bei euch in der Orthodoxen Kirche die echte Kommunion gibt? Besonders die Römisch-Katholischen werden einwenden, daß sie ebenfalls an die Transsubstantiation der Gaben glauben.

Es gibt eine langwierige, historische, kanonische, theologische Beweisführung und eine kürzere, empirische. Der empirische Beweis dafür sind die Heiligen. Romanidis führt aus, daß ein wissenschaftliches Verfahren, z. B. die Medizin, auch seine spezifischen Ergebnisse hervorbringen muß, sonst ist es nutzlos. Im Unterschied zur intellektuell geprägten Dogmatik der heterodoxen Konfessionen geht die Dogmatik der Orthodoxie von der Erfahrung aus, der Erfahrung der Heiligen, derer also, die die Realität der Vergöttlichung erfahren haben. Die unzählig vielen orthodoxen Heiligen sind der empirische Beweis dafür, daß der Weg zur Theosis auf der Grundlage der Heiligen Mysterien in der Orthodoxen Kirche im Lauf der beiden Jahrtausende christlicher Geschichte bis in die Gegenwart funktioniert hat und weiterhin funktioniert. Heilige wie der hl. Johannes von Kronstadt, der hl. Nektarios von Pentapolis, der hl. Ioann Maksimovič von Shanghai und San Francisco, der hl. Porphyrios von Kavsokalyvia, der hl. Paisios vom Athos (um nur einige wenige zu nennen) sind für westlich, rational geprägte Menschen schlicht unbegreiflich. Die unzähligen Wunder, die sie wirkten, die unzähligen Seelen, die durch die Begegnung mit ihnen verwandelt wurden – all das kann es, wenn die Paradigmen der westlichen Konfessionen, allen voran die protestantische „Entmythologisierung“, stimmen, eigentlich gar nicht geben. Und doch geschah das alles real, in unserer Gegenwart, erfahren von zahllosen Augenzeugen, und es geschieht weiterhin.

Die Heiligen sind Zeugen für die Wahrheit der Orthodoxie, die Authentizität ihrer spirituellen Tradition und die Wirksamkeit ihrer Mysterien. Hätte sich die Orthodoxie vor Gericht zu verantworten, so stände eine unübersehbare Schar von Heiligen im Zeugenstand, die alle mit einer Stimme, in demselben Geist verlautbaren würden, daß die Orthodoxie der Weg zur Heiligkeit, zur Vergöttlichung ist: eine Wolke von Zeugen (Hebr 12,1). Als weitere empirische Beweismittel und Indizien hätte man die heiligen Reliquien, welche zeigen, daß auch der materielle Körper der Heiligen an der Theosis teilhat und die Kraft besitzt, nach dem Entschlafen der Heiligen Wunder zu wirken. Zudem würden Heilige vortreten, die infolge ihres erleuchteten Nous, der Geistkraft, sehen können, ob in der Eucharistie eine Verwandlung der Gaben stattfindet oder nicht. Erst nachdem all diese Zeugen und Beweismittel präsentiert worden wären, könnte man an eine detaillierte theologische Diskussion gehen, die zu demselben Ergebnis käme.

Heilige gibt es in den anderen christlichen Konfessionen nicht (abgesehen vielleicht von wenigen Ausnahmen); es gibt „große Menschen“, Vorbilder, herausragende, ethisch hochstehende Gestalten, aber keine Heiligen, die mit den orthodoxen Heiligen vergleichbar wären. Sicherlich, es werden viele der vorschismatischen Heiligen des ersten Jahrtausends auch von Katholiken verehrt, und es finden weiterhin Heiligsprechungen von Menschen aus neuerer Zeit in der römisch-katholischen Kirche statt, aber es handelt sich bei diesen um seltene Ausnahmegestalten, und bei genauerer Betrachtung stellt man fest, daß auch sie sich erheblich vom „Stil der Heiligkeit“ unterscheiden, der die orthodoxen Heiligen aller Jahrhunderte eint. Der authentische Weg zur Theosis ist allein in der Orthodoxen Kirche zu finden, und damit kämen wir zurück zum Anfang dieser Ausführungen.

„Außerhalb der Kirche ist kein Heil, keine Rettung.“ Wenn man nun „Heil“, „Rettung“, „Erlösung“ nach orthodoxem Verständnis als Theosis begreift und Theosis als Ziel des Menschenlebens betrachtet, so, wie es die Evangelien und die Lehre der Apostel klar bekunden, dann ist das Heil tatsächlich einzig in der Kirche zu finden, die Jesus Christus, unser Herr, Selbst erbaut hat und weiterhin erbaut – der Orthodoxen Kirche. Alle Häresien und Abspaltungen von der Einen Kirche sind hingegen Folge von Verblendung des Geistes (gr. plani, ksl. prelest‘), unterliegen also dem „alten Trug“, wie es in liturgischen Texten heißt, allerdings in neuem Gewand, heutzutage im Gewand eines verfälschten Christentums. „Eine Häresie (jede Häresie) ist nicht nur eine falsche Lehre; sie ist buchstäblich eine ‚Nicht-Orthodoxie‘ und ein ‚Nicht-Christentum‘“, wie es Prof. Georgios Metallinos formuliert.5 Der Teufel hat mit großen Teilen der „Weltreligion Christentum“ keine Probleme, wohl aber mit der ekklesía; deshalb bekämpft er diese auch seit jeher mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln.

Gott, Welcher will, daß alle Menschen gerettet werden und alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1 Tim 2,4), findet Mittel und Wege, Menschen zur Umkehr, zum „Umgeisten“, zur Suche nach der Wahrheit zu bewegen. Dies geschieht durch eine Form der göttlichen Energie, welche die Heiligen Väter „erweckende Gnade“ nennen (beispielsweise der hl. Theophan der Klausner im Weg zur Rettung). Diese „erweckende Gnade“ kann allen Menschen zuteil werden; die Voraussetzungen, nach denen Gott sie austeilt, kennt nur Er allein. Aber die „erweckende Gnade“ ist von der „vergöttlichenden Gnade“, die in den Heiligen Mysterien und im geistlichen Leben der Orthodoxen Kirche existiert, verschieden. Das Wirken der „erweckenden Gnade“ kann den Menschen dazu bringen, in die Orthodoxe Kirche einzutreten, um dort die „vergöttlichende Gnade“, die ungeschaffene Energie der Vergöttlichung, zu empfangen. Man kann diese noch etwas weiter differenzieren in die göttlichen Energien der Reinigung, der Erleuchtung und der eigentlichen Theosis, wie es z. B. Erzpriester Prof. Ioannis Romanidis ausführt: „Die Unterscheidungen zwischen den geistlichen Stadien sind die Grundlage dafür, unter die göttlichen Energien jene der Theosis, der Erleuchtung und der Reinigung, welche die Energie ist, die mit denjenigen verbunden ist, die im Glauben unterwiesen werden, aufzunehmen. Nicht alle Christen [gemeint sind jene der „Weltreligion Christentum“] sind in der Lage, an den Energien der Theosis, Erleuchtung und Reinigung teilzuhaben. Man muß ein orthodoxer Christ sein, um an diesen Energien teilzuhaben, doch nicht jeder orthodoxe Christ tut das, sondern nur diejenigen, welche, geistlich gesprochen, vorbereitet sind.“6

Unter Vorbereitung ist hier das Gesamt der Orthopraxis, der orthodoxen Lebensweise auf der Grundlage des rechten Glaubens, der Demut, der Liebe zu Gott und den Nächsten und dem Halten der Gebote zu verstehen, während das Medium der Vergöttlichung die Heilige Kommunion des wirklichen Leibes und Blutes Christi ist. Ob das Potential der darin enthaltenen vergöttlichenden Energie auch aktiv werden kann, ist daher vom Maß und der Tiefe der Vorbereitung der daran Teilnehmenden abhängig, also von der askesis, sowie von der göttlichen Vorsehung und Gnade.

Bei allen Unzulänglichkeiten und Mängeln der „real existierenden Orthodoxie“, ist, wie gesagt, Theosis nur in der Ekklesía, in der Orthodoxen Kirche, möglich, weil nur dort die Energien der Vergöttlichung und ihrer vorherigen Stadien – Erleuchtung und Reinigung – wirksam sind. Ob diejenigen, die zu ihr gehören, auch zum Ziel gelangen, zu dem sie uns beruft, ist freilich eine andere Frage, jene unserer eigenen Bereitschaft, Entschlossenheit und Konsequenz. Und es hängt auch davon ab, ob wir die Orthodoxie nicht nur als eine mögliche Form des Christentums, wenn auch vielleicht als die beste oder schönste, begreifen, sondern als etwas, das von allem anderen, was sich „Christentum“ nennt, fundamental verschieden ist: als therapeutisch-asketisches, mystagogisches Verfahren, durch das die Theosis greifbar, zugänglich wird; sie steht als Möglichkeit zur Verfügung; sie ist das Angebot, die Einladung, die Methode, der Sinn der Kirche: „Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott (vergöttlicht) werde“, wie es die Heiligen Väter formulieren. Diese Einladung zur Theosis weiterzugeben, ist das Anliegen, das Ziel und der Inhalt der orthodoxen Mission. 

Was geschieht nun mit den anderen „Christen“ aus der „Weltreligion Christentum“? Wir wissen es nicht; es liegt alles in Gottes Hand, und Gott ist barmherzig und gütig und frei, und das Hauptkriterium im Weltgericht über alle Völker, alle Menschen, ist Barmherzigkeit (Mt 25,31-46) – seien sie nun orthodox oder nicht-orthodox, heidnisch, atheistisch oder was auch immer. Und somit besteht für alle, die in ihrem Leben Barmherzigkeit vollbracht haben, Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes. Dennoch muß klar und eindeutig gesagt werden, daß es außerhalb der Orthodoxie keine Theosis gibt, keinen genuinen Weg der Heiligung und Vereinigung mit dem Dreieinen Gott.  

Wenn man das Christentum nach heutigem Sprachgebrauch als „Weltreligion“ begreift, beginnt dort, wo es aufhört, die Kirche.Somit wäre es nur konsequent zu sagen, daß die Orthodoxe Kirche nicht mehr Teil des „Christentums“ ist, denn wie kann sie Teil von etwas sein, das größer und umfassender als sie wäre? Nein, seit sich das „Christentum“ von der Kirche getrennt hat, gehört es nicht mehr zur Kirche, und die Kirche nicht mehr zum „Christentum“.

Es wird keine Rechristianisierung des Abendlands geben, dazu ist die Apostasie schon viel zu weit fortgeschritten. Eine humanistische Ethik, die mit der Orthodoxie inkompatibel ist, hat sich fest etabliert. Der Begriff und die Methode der Vergöttlichung sind außerhalb der Orthodoxie nicht bekannt. Der hl. Ignatij Brjančaninov hat schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesagt, daß es zwecklos sei, sich der allgemeinen Apostasie entgegenzustemmen. Wir leben in den Randausläufern der Endzeit, oder vielleicht sind wir schon mitten drin. Es ist eine Zeit, die in gewisser Hinsicht der Zeit der Apostel ähnelt, die einerseits vom pharisäischen Judaismus, andererseits vom allesbeherrschenden Heidentum umringt waren. Sie wollten nicht das Römische Imperium ethisch reformieren, sondern allein das verkünden, was sie zu verkünden hatten: den gekreuzigten und auferstandenen Gottmenschen, den therapeutisch-asketischen Weg zur Rettung der Seele, die Vergöttlichung.

Was bleibt uns also zu tun?

  1. Die Wahrheit zu artikulieren. Die Wahrheit besteht darin, daß es allein im gottmenschlichen Organismus der Orthodoxen Kirche Vergöttlichung gibt und daß diese das gottgewollte Ziel des Menschenlebens ist.
  2. Weitere Inseln zu schaffen und die bestehenden zu unterstützen: Oasen, Anlaufpunkte, in denen diese Wahrheit präsent ist, gelebt und verwirklicht wird, die nicht ethnisch dominiert werden, sondern offen sind für Suchende „aller Nationen“ und bereit sind, sich ihrer anzunehmen. Dazu ist als Instrument die deutsche Sprache erforderlich und Menschen, die sich als orthodoxe Christen ihrer apostolischen Verantwortung bewußt sind – allen voran Bischöfe und Priester – und selbst fest und aus eigener Erfahrung in der therapeutischen Tradition der Orthodoxen Kirche verankert sind.

Möge Gott dies gewähren!

Amen.

1 Zitiert nach Hl. Neumärtyrer Ilarion Troickij, „Christentum oder die Kirche?“, im  Schmalen Pfad, Band 48, S. 24-25

2 Ebd., S. 30

3 Nach https://de.wikipedia.org/wiki/Christentum und anderen Quellen im Internet.

4 Erpr. Prof. Georgios Metallinos, „Die philokalische Unterscheidung zwischen Orthodoxie und Häresie“, im Schmalen Pfad, Band 36, S. 74

4 Pedalion – The Rudder, S. 21.

5 „Concerning Frequent Communion of the Immaculate Mysteries of Christ“ by our Righteous God-bearing Father Nikodemos the Hagiorite, The Dalles, Oregon 2006 (Uncut Mountain Press)

5 A.a.O., S. 76

6 Protopresbyter John S. Romanides, Patristic Theology, Uncut Mountain Press 2008, S. 174

Quelle:

Der schmale Pfad – Orthodoxe Quellen und Zeugnisse

Vierteljährlich erscheinende Schriftensammlung mit Materialien zum orthodoxen Christentum, herausgegeben von Johannes Alfred Wolf – www.orthlit.deNr. 74 (Dezember 2020)

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