Am 17. Oktober 2020 fand in der Offenbacher rumänischen Nikolauskirche das 31. Treffen des Forum für orthodoxe Spiritualität in Kultur und Bioethik statt. Thema diesmal: „Christentum oder Kirche“.

Cornelia

Nachfolgend ein Bericht unseres DOM-Mitglieds Cornelia, die diese halbjährlichen Treffen immer wieder mit interessanten Gästen und Beiträgen organisiert.

Ganze zwei Tage vor dem Inkrafttreten der strengeren Corona-Regeln im Offenbacher hotspot konnte Focs gerade noch „legal“ zusammenkommen. Im kleinen Kreis von 12 Teilnehmern wurde nicht nur der geratene Abstand mühelos gewahrt. Auch das anspruchsvolle Thema neuzeitlicher, und dabei zugleich Traditions-treuer Ansätze zur orthodoxen Ekklesiologie ließ sich durch entspannte Gespräche vertiefen. Es blieb sogar Zeit für einen persönlichen Austausch über die kleinen Dinge des kirchlichen Lebens. Hier wurde wieder einmal die pastorale Ausrichtung orthodoxer Theologie faßbar: Jeder orthodoxe Christ muß entscheiden, an welchen Schwachpunkten seines eigenen Mühens welche theologischen Argumentationslinien eher hilfreich oder hinderlich sind, und diese Entscheidungen müssen wir im Gespräch miteinander klären und respektieren. Glücklich, wer dabei unter guter geistlichen Leitung steht! Und glücklich die Focs-Gemeinde, die sich immer auf ihren Gastgeber, Vater Stefan, verlassen kann!

Das Programm drehte sich um zeitgenössische Formen jenes Etikettenschwindels, den der Heilige Hilarion von Wereja in seiner Schrift „Christentum oder Kirche?“ bloßgestellt hat. Obwohl diese Schrift (inzwischen auch als DOM-Broschüre erhältlich!) noch vor dem ersten Weltkrieg verfaßt wurde und sich gegen die Verächter der Kirche unter den Anhängern Leo Tolstojs wendet, trifft sie auch unsere Gegenwart. Aktuelle Beispiele boten die Forderungen der Veranstalter des ökumenischen Kirchentags 2021 nach eucharistischer Gastfreundschaft zwischen den Konfessionen und die ansonsten durchaus eindrucksvolle Mahnschrift eines kürzlich zur Orthodoxie Konvertierten (Rod Dreher: Benedikt Option) aus den USA. Für Europäer relevant ist unter Drehers Quellen ein zeitdiagnostischen  Briefwechsel zwischen dem damaligen Kardinal Josef Ratzinger und dem Präsidenten des italienischen Senats und Philosophieprofessor Marcello Pera (Ohne Wurzeln): Beide fordern darin eine „über-konfessionelle Zivilreligion“, – also den Versuch, neben dem, was der Kardinal weiterhin  als seine Kirche festhält, eben jenes „Christentum pur“ als Heilmittel gegen den säkularistischen Relativismus der Moderne zu empfehlen, das der Heilige Hilarion verurteilt.

Erklärlich wird die innere Widersprüchlichkeit einer solchen Position durch die zerstörerischen Folgen nahe, die das 2. Vatikanische Konzil für den Römischen Katholizismus zeitigte. H.T. Engelhardts Analyse dieser Folgen (in After God) hebt unter den Ursachen eine liturgische Reformbewegung innerhalb des vatikanischen Katholizismus hervor. In einer für orthodoxe Christen höchst beunruhigenden Weise nahm hieran ein prominenter orthodoxer Theologie teil. Nikolai Afanasiev, allseits anerkannter Kirchenhistoriker am Institut St. Serge in Paris, hat die Ekklesiologie des zweiten Vatikanum tiefgreifend beeinflußt. Ein Blick auf sein Werk über die Kirche des Heiligen Geistes (die allerdings auf Deutsch nicht vorliegt) erlaubt es, die guten Absichten jener katholischen Reformbewegung aus Afanasievs Kritik eines Klerikalismus herzuleiten, die auch das Leben der orthodoxen Kirche beeinträchtigt.

Daß aus einem legitimen theologischen Anliegen (der Rückkehr zur Urkirche) in seiner Umsetzung durch die vatikanische Liturgiereform ein so großer Verlust an Berufungen und beim Gottesdienstbesuch erwuchs, bedarf der Erklärung. Dies gilt auch deshalb, weil Afanasiev selbst eine gegenseitige Anerkennung der Mysterien zwischen Orthodoxen und Vatikanern für unproblematisch hält: Die eine Kirche habe sich eigentlich nie wirklich getrennt. Denkt man diese These zu Ende, kann man dem oben bedachten Bemühen des Ökumenischen Kirchentages um eucharistische „Gastfreundschaft“ zumindest im Hinblick auf vatikanische Katholiken und Orthodoxe nicht mehr mit dem Argument begegnen, hier werde „Kirche“ zugunsten von „Christentum“ vernachlässigt. Das wichtige Anliegen des Heiligen Hilarion muß im Licht neuerer historischer Erkenntnisse präzisiert werden: Es genügt nicht, das Bekenntnis zur (nur überhaupt) „Kirche“ dem Bekenntnis zum bloßen „Christentum“ entgegenzusetzen. Der Begriff der „Kirche“ muß überdies recht verstanden werden.

Zwei Umstände wurden hierzu bedacht: Zum einen fehlt dem Katholizismus ein Verständnis für jenes „heilige Gottesvolk“, das die Orthodoxie, ungeachtet aller Lehr-Verzerrungen, über die Jahrhunderte hinweg im kirchlichen Leben bewahrt hat. Zum anderen bedarf auch Afanasievs rein eucharistischer Kirchenbegriff der Ergänzung. So hat Vater Peter Plank in seiner Dissertation (Die Eucharistieversammlung als Kirche) den Hinblick auf die Einmütigkeit christlicher Lehre eingefordert. Und Georg Florovsky (Die Grenzen der Kirche) setzte dem ökumenistischen Anliegen (für das er von nicht-Orthodoxen gerne vereinnahmt wird) eine Besinnung auf das von der Kirche verantwortbar Sagbare über eucharistische Gnade jenseits der durch dogmatische Einmütigkeit gezogenen kanonischen Grenzen entgegen.

Die wesentliche take home message für uns Focs-Gesprächspartner orientiert sich allerdings an  Afanasievs heute unbestrittener Lehre vom Charisma der Unterscheidung und Prüfung im allgemeinen Gottesvolk: Wir alle sind herausgefordert, diese Gabe des Heiligen Geistes mit eifriger Treue zu bewahren und zu entwickeln.

Zum Weiterlesen empfiehlt sich die Schrift „Christentum oder Kirche?“, heute aktueller denn je, des heiligen Erzbischofs Hilarion von Wereja, erschienen in der Edition DOM.