Dostojewski, Fjodor – Tagebuch eines Schriftstellers : notierte Gedanken.

(1874 | 620 S.) Tagebuch eines Schriftstellers (russisch: Дневник писателя; Dnewnik pisatelja) ist der Titel einer Sammlung nicht-fiktionaler und fiktionaler Schriften von Fjodor Dostojewski. Erschienen sind sie von 1873 bis 1874 in der Zeitschrift Graschdanin und von 1876 bis zu Dostojewskis Tod (1881) als selbstständige Zeitschrift. Von allen Werken, die Dostojewski hervorgebracht hat, ist das Tagebuch in seiner Gesamtheit das umfangreichste. Es war an ein großes Publikum gerichtet und in seiner Zeit sehr populär. Wikipedia

Meinung

Cornelia meint (JG = für Jugendliche, OR = orthodox relevant, HS = historisch von Interesse):

Hatte zunächst gar keine Lust darauf, bin aber überwältigt von seinen

Erklärungen zur Puschkinrede,

 die klar wie nirgends sonst seine Idee des russischen Geistes zwischen Slawophilen und Westlern darlegt. Die Orthodoxie, die diesem Geist mit seiner All-Einfühlung und All-Versöhnung zugrundeliegt, wird nirgends ausgesprochen, nur einmal wird eine Persiflage auf die „pravoslavie“ abgewehrt. Für Orthodoxe ist dieser russische Geist natürlich klar kirchlich.

OR

Die Puschkin-Rede selbst

ist bemerkenswert in ihrem Lob der Figur der Tatjana als der allrussischen Frau: hauptsächlich darum, weil sie in ihrer Integrität genau jenes Reinfallen auf das Mitleidsprogramm vermeidet, das sonst immer den russischen Frauen auf den Leib geschrieben wird. Gerade als Gegenbild zum Idioten bewahrt Tatjana gegenüber dem Luftikus Onegin ihre moralische Würde und erkennt genau, daß Hingabe bloß in Verachtung von seiner Seite enden würde. Ich finde das sehr wichtig, gerade für Mädchen, die sich verlieben. Aber auch das Thema: man darf, um das Glück anderer aufzubauen, niemals das Unglück auch nur eines Unwürdigsten in Kauf nehmen, ein Thema aus den Karamasow-Brüdern, wird hier deutlich klar gemacht. Es ist ein wunderbares Moralbuch im orthodoxen Sinn, gerade auch im Blick auf die Figur des Mönchs.

Was mich an dieser Rede besonders begeistert ist, daß sie dasselbe Konzept von Literatur zeigt, das auch meiner Bücherliste zugrundeliegt: Dostojewski sucht in der Literatur Leitbilder, hier für das Wesen des russischen Menschen, aber auch moralische und ästhetische Leitbilder, hier Tatjana. Die Literatur spielt hier ihre Rolle bei der Herzensbildung, und darauf kommt es auch mir an. (Ich erinnere mich auch an den Spott, der in vielen seiner Werke über jene ausgegossen wird, die sich ihre Seele durch ausländische Romane haben verkehren lassen. Das ist das Gegenbild: Literatur als Fehlerziehung.) Vielleicht kann ich unter diesem Gesichtspunkt dann auch mal Schiller wieder ertragen, – trotz seines heidnischen Idealismus.

Und nachdem ich so begeistert war, hat mich der Schluß belehrt: trotz aller christlicher Orientierung ist Dostojewskis Lob von Puschkins allumfassender Sensibilität nicht überzeugend. Ich sehe hier nicht eine erzielte Einheit aller Menschen durch Einfühlung in alle Kulturen, sondern weiterhin nur blasse Nachahmung. Und vor allem unnütze Nachahmung. Und ich sehe im Ideal der All-Menschlichkeit und All-Brüderlichkeit und All-Durchdringung, das D. seiner russischen Volkskultur aufsetzt, eine nicht-christliche Hybris. So wie die orthodoxe Tradition multikulti ist, d.h. nicht nur jeden besonderen Menschen in seiner Besonderheit heiligt, sondern auch jede besondere nationale Kultur, so sollte man nicht versuchen, eine dieser Nationalkulturen in eine übergeordnete (Meta-) Kultur zu verwandeln. Das riecht nach jenem Messianismus, der dann nachher als Kommunismus am russischen Wesen die Welt genesen lassen will. Kurz, der Spagat, den er anstrebt, zwischen Universalismus und Volkstum-Frömmigkeit gelingt nicht. Ich frage mich, ob Schmemanns Kritik an Solschenizyn in seinen Aufzeichnungen nicht in dieselbe Richtung geht.

Natürlich sind wir Christen Weltbürger. Aber wir sind es in dieser und jener Ausprägung der Tradition, und die Tradition ist stark genug, so daß jeder Christ in allen Nationalkulturen sich hinreichend zuhause fühlen kann, – obwohl natürlich Temperamentsunterschiede eine Rolle spielen können. Trotzdem bleibt auch für uns westliche Menschen die Aufgabe, eine deutsche, französische, englische etc. Orthodoxie wachsen zu lassen.

JG

Ich benütze die Gelegenheit: gegen den Kritiker Gradowski

Gegen einen Vertreter der westlichen Aufklärung in Russland. Gleich anfangs zeigt D. den Unterschied zwischen Aufklärung im technischen Sinne (Wissenschaft usw.) und der Aufklärung im säkularistischen Sinne der Wert-Umorientierung. Verteidigt eine wahre Aufklärung (im letzteren Sinn des Normativen)  in Russland als durch Christus gestiftet. Verteidigt die eigene Wahrheit der Russen im Sinne Christi insofern, als der Russe zwar sündigt wie alle, aber weiß, daß er sündigt, und das unterscheidet ihn von den Europäern. Im zweiten Teil geht es um Figuren Gogols, d.h. um die Identität der verantwortungslosen Zivilisationsflüchtlinge bei Gogol und der verantwortungslosen Liberalen, die doch immer ihren Luxus vom Schweiß der Bauern bestreiten, die sie verachten aber ideologisch befreien wollen. Im 3. Teil diskutiert er die Beziehung zwischen persönlicher Vervollkommnung jedes Einzelnen, wie von Christus gefordert, und der Bedeutung struktureller Änderungen. Argumentiert, daß die Strukturen ganz von selbst aus der gewachsenen Heiligkeit eines Volks hervorgehen. Entlarvt die Leerheit der westlichen bürgerlichen Ideale – all das ist total aktuell. Großartig

JG

Von dem Russischen Menschen

Teil I IV Das ist eine wunderschöne Darstellung des russischen Menschen als religiös. Allerdings galt das nur vor der Befreiung der Bauern. Es geht um die Leidenschaft zur Sünde und zur Reue. Und um Heilige. Teil II eine ganz orthodoxe  Liebe zum russischen Volk. Teil III die rührende Geschichte von der stillen Heiligkeit des leibeigenen Bauern Marej, Teil IV der Martyrer Foma Danilov

JG +OR

Von dem russischen Reich

Allweltliche Erneuerung und göttliche Wahrheit, die sich doch mal auf Erden verwirklichen muß. Das ist mir bißchen zu millennial. Aber hochinteressant die Analyse der Russischen Elite, die in Europa immer zu den linken Zerstörern hält und paradoxerweise, obwohl sie damit recht haben weil die europäische Kultur nix taugt, zuhause gegen die Slavophilen kämpfen, die doch die einzige Alternative zu dieser Schrottkultur bejahen. Teil II über die Unvereinbarkeit von Europa und Russland, Teil III über die Beziehung der charismatischen Allwelt-Russen zu den Westbalkanslaven und den Griechen, Teil IV gong ho für den Balkankrieg und wir brauchen Konstantinopel. Alles schön und sehr idealistisch und martialisch, – bloß sein Antisemitismus, zwar aus gut gemeinten Gründen, aber als Antisemitismus halt einfach unerträglich. Teil V über die reinigende Kraft des Krieges und die Unbesiegbarkeit des absolut anderen Russland, was dieEuropäer nie verstehen werden: die Natur des grenzenlosen russischen Landes (in dem Napoleon sich verlief) und des allvereinigenden russischen Geistes. (All das ist im Moment etwas schwer zu verdauen, wenn ein Putin die Misere seines Politikversagens kompensieren will durch genau solche Mythen und Agressionen.) Teil VI Krieg wieder gelobt als Gelegenheit zur Selbstaufopferung – und da ist natürlich was dran. Man muß nur gucken, welche Aufopferung Christus von uns will. Zwar gibt er zu, daß die Menschheit den Krieg überwinden soll und Frieden machen. Aber Russland  führt Krieg nicht aus wirtschaftlichen Interessen sondern um die Unterdrückten zu retten. Und wir Russen werden auch Europa retten, um ihnen einen anderen Frieden zu schenken. Immer sind es Zar und Volk, die interesselos den anderen helfen wollen, was Europa nie verstehen kann. Teil VII Erklärt,, wie langer Friede stets Grausamkeit und Laster fördert,“ und, auweia, das stimmt natürlich. Aber ich sage: es ist doch nicht die ganze Wahrheit: Wir sind sensibler füreinander geworden in diesem Frieden, wir pflegen das Mitgefühl und die Einfühlung. Dostojewski denkt, die Solidarität schwinde im Frieden – er kennt nicht unsere soziale Friedens-Solidarität, die ein anderes Elend pflegt. Natürlich gibt es einen Stachel in unserer heutigen Soli-Friedensordnung: Wir ertragen die Unterdrückung ganzer Völker durch China. Was macht das mit uns? Auch gefällt mir der inhaltslose Idealismus nicht, den D. als Motiv für den Krieg preist. Da ist wirklich viel Korks dabei. Teil VIII fragt, was die Eroberung einer Turkmenischen Festung 1881 für Russland bringt, d.h. was Asien eigentlich für Russland sein soll. In Europa begegnet man uns immer mit Hass, weil man unsere guten Absichten nie versteht. Wir sind nämlich Asiaten ebenso wie Europäer. Und weil Europa unsere Selbstlosigkeit nie verstehen kann, sollten wir uns nach Asien ausrichten…

All diese Ideale Dostojewskis werden heute mißbraucht, um von Unfähigkeit und Korruption abzulenken. Aber wird das Gute nicht überall dadurch gewürdigt, daß es mißbraucht wird? Man darf den Mißbrauch nicht gegen das Mißbrauchte anführen, und das, obwohl Christus sagt, daß wir es an den Früchten erkennen werden. Diese Aussage ist höchst rätselhaft in einer gefallenen Welt.

HIST  OR

Info

Erscheinungsjahr19. Jh., 2. Hälfte
Seiten> 600
AutorDostojewski, Fjodor

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