Fontane, Theodor – Vor dem Sturm

(1878 | 640 S.)

Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13 ist der Titel eines historischen Romans von Theodor Fontane über den Beginn der preußischen Befreiungskriege gegen die französische Besatzung. Der Roman erschien zuerst 1878 als Vorabdruck in der Leipziger Wochenzeitschrift „Daheim. Wikipedia

Meinung

Cornelia meint:

Ich las dieses Buch, um mir klar zu werden, was Preußentum ist, – und wurde reich beschenkt: Man sieht hier diese ganze Kultur in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit, ihre Positionierung zwischen Germanischem und Slawischem, Christlichem und verbleibendem Heidentum in den Dörfern, zwischen den alten Askaniern und dann den Hohenzollern, den newcomers aus Nürnberg, dann zwischen dem Großen Kurfürsten und ersten König bis zu Friedrich II, unter dem sich der Adel spaltete in eine Hofkultur und eine Hof-Verweigerungs-Unabhängigkeits- und eigensinnige Traditionskultur. Dieser Kontrast prägt sowohl die Umgebung von Friedrich selbst als auch den Konkurrenz-Hof seines Bruders Heinrich als Oppositions-Lager, zwischen Frankreich-Bewunderung wegen überlegener Kultur und Aufklärung und Frankreich Hass wegen Königsmord und Napoleon, zwischen heroischer und Biedermeier Romantik, zwischen Resignation angesichts der Niederlage und den alten Leuten, die ihren Freiheitsdrang bewahrt hatten, zwischen Königsgehorsam über alles weil von Gott (egal wie es ausfällt) und der eigenverantwortlichen Insubordination unter Bereitschaft zum Opfer des Liebsten für das Wohl des „Ganzen“, das sich damals noch eindeutig als Freiheit (politisch und moralisch) im christlichen Sinne verstehen ließ. Die Französische Revolution wird nicht eindeutig abgelehnt: Bamme, ein Produkt adeliger Inzucht und Dünkelei, muss ganz klar die Überlegenheit des Gleichheitsideals eben da anerkennen, wo hässliche Bürger todesmutig Ihre Tapferkeit im Befreiungskrieg beweisen. Weil der Adel seine Stellung eigentlich aus dieser Tapferkeit und Opferbereitschaft bezogen hat, ist nun, da die Bürger es ihm gleichtun, der Standesdünkel nicht mehr angebracht. Es kommt auf den Menschen an, und hier haben wir eine neue, bürgerliche Humanität. Trotzdem steht weiterhin auch Brandenburg gegen die Preußen und die Deutschen gegen Franzosen und Russen, es gilt also das „Blut“ und die ihm je eigene differenzierte Bestimmung. Es gibt die globalisierten Adeligen und die der Scholle Verwurzelten.  Alles das durch alle Stände meisterhaft gezeichnet.

Und spannend. Im Zentrum Lewin, weich, human, der endlich doch seine Säbelhiebe abkriegt und über softe Literaturförderung im Sinne der Romantik zur Tapferkeit heranwächst. Und Renate, das allseits verehrte Idealbild, das aber von Anfang an auch eine sehr klare Sicht und spitze Stimme hat. Dennoch ist sie zur Liebe fähig – und weiß doch, dass sie in ihrer Liebe zum Polen Tubal, dem man nicht trauen kann, nicht glücklich werden kann. Er stirbt im Kampf (genauer und absurder, weil er des Freundes Hund retten will) – und sie will nicht wie Tante Schorlemmer im Haus des Bruders fromme Sprüche klopfen. Das ist schmerzlich zu sehen. Beide Kinder, Lewin und Renate,  verloren früh die Mutter und wurden von dieser Tante erzogen, erhoben und gelangweilt. Beide kriegen vom Autor ein tieferes Christentum attestiert, genau wie Vater Bernd, der Mann von gutem altem Schrot und Korn, Hauptfigur, mehr im Herzen als im Dogma. Renate verweigert sich also der Tanten-Rolle, wird Stiftsfräulein, betet und tut Gutes. Das fand ich ungenügend motiviert, da war Fontane überfordert oder mußte zu schnell fertig werden.

Bedauerlich für mich die Gespenstergeschichten, die überall eine Art Transzendenzersatz zur moralischen Ausgleichsgerechtigkeit hergeben, wo die Pietisterei nicht hinlangt. Es ist mit dem Göttlichen hier wie mit dem Künstlerischen: alles soll gedämpft, geahnt, getupft, hinausgedeutet werden, und eigentlich hat nur die Phantasie (Imagination, denk an Blake) das höchste Recht neben Treue und Opferbereitschaft. An der Figur der Marie, Mutter aus gutem Hause, Vater Schausteller, als Waisenkind mit den Vietzewitzes erzogen, wird dieser Konflikt zwischen halbgutem Blut, gesellschaftlichen Vorurteilen, Zauber und Güte und Tiefe ausgefochten: Bernd Vietzewitz muß seinen Privatkrieg als kostspieliges Scheitern und seine Schuld und Eitelkeit sehen lernen, bevor er demütig genug wird, seinen Sohn an Marie zu verheiraten. Am Ende ist Bamme, der größte Kotzbrocken, das prophetischste Orakel der neuen Zeit.

Theologisch interessant – abgesehen von den liebevollst karrikierten Geistlichen, ist Tante Schorlemmer mit ihren frommen Sprüchen, die als einzige den Spukgeschichten klar ins Auge sieht. Leider nur mangelt es ihr an Liebe, wie all den Konventiklern.

Auch dieses Buch kann zeigen, wie bruchstückhaft das Christentum im Westen im 19. Jh. Noch lebte. Immer fehlt eine Kirche, die nicht papistisch ist wie das, was am Ende Kathinka und ihr Graf als Polen in Paris genießen.

Info

Erscheinungsjahr19. Jh., 2. Hälfte
Seiten> 600
AutorFontane, Theodor

Kommentare

Kommentar zu: Fontane, Theodor – Vor dem Sturm.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert