Freytag, Gustav – Bilder aus deutscher Vergangenheit

(1876 | 2500 S./ 5 Bände)

Meinung

Cornelia meint zu Band 1:

 

Freytag hat Nerven! Wirft uns den Zettelkasten, aus dem er den Großroman der Ahnen zusammengestückelt hat, einfach vor die Füße. So erfahren wir alles, was man im 19. Jh. in Deutschland über die Ursprünge der Germanen wissen konnte. Anregend ist dabei seine letztlich teleologische Geschichtsbetrachtung, auch wenn sie auf ein liberales Ziel ausgerichtet ist. Immerhin kriegt man so einen roten Faden durch das Gewächs der Geschehnisse und Zustände.

Wirklich eindrucksvoll aber auch der „nationale Geist“, der das ganze durchatmet: Das sind UNSERE Germanen, und die werden gar nicht irgendwie eng definiert: von allen Seiten hat sich da Andersstämmiges reingemischt. Ein Wesenskern wird herausgearbeitet, der viel mit Ehre, Rechtssinn, Ordnung des Lebens, Gemüthaftigkeit, Kühnheit, politischer Weisheit – aber auch mit Wutanfällen und Irrationalität zu tun hat. Da werden gute und schlechte Charakterzüge so entspannt und zugleich liebevoll zugewandt dargestellt, wie das ein aufgeklärter Vater mit seinen Kindern machen würde. Man liebt auch da, wo die Jungs in die Irre gehen. Belohnt wird Lesers Geduld mit Reisebeschreibungen, wie die eines byzantinischen Gesandten am Hof Attilas, wo man richtiges echt gesehenes Leben miterleben kann. Überhaupt ist das Ganze stark Quellen-gestützt, und insofern auch verlässlich (zumindest im Blick auf den literarischen Zugang).

Das Buch ist dick, die Schrift ist klein. Ich benutze es, um abends einzuschlafen, wofür es gut wirkt. Mal sehen, ob ich die Geduld aufbringen, es ganz zu lesen!

Anders als wir das heute mit Toynbee sehen (Kultur primär, sekundär Staat, tertiär Nation) sah das 19. Jh. die Nation primär. Das wird sehr anschaulich in Freytags Buch.

Je länger ich lese, umso ärgerlicher wird mir allerdings sein mangelndes Verständnis für die Christianisierung unseres Landes. Andererseits muss ich mir das antun, denn er hat recht mit seiner Diagnose darüber, wie vieles noch von Heidnisch-Germanischem in unserem Christenglauben sich versteckt. Do ut des und sowas. Der ganze Aberglaube. Wie schwer es das Christentum hat, so eine Kultur zu durchdringen. Vermutlich besonders schwer wegen der Trennung von der Kirche, ich meine der wahren Kirche im Osten. Je weiter ich fortlese, umso ärgerlicher werden mir die ständigen zynischen Darstellungen pervertierter Christlichkeit. Selbst in den Klöstern gibt es nur Sünde und Politik. Aber was soll er denn machen, es gibt ja keine besseren Quellen, d.h. er hat sie wohl nicht gekannt….

Und da ich immer noch zum Einschlafen weiterlese und nicht davon loskomme, muss ich gestehen, dass ich inzwischen für diese Führung durch die literarischen Denkmäler des Mittelalters dankbar bin. In allem Weltlichen ist Freytags coole Sachlichkeit wohltuend. Endlich verstehe ich, warum ich die Höhen des Minnesangs immer abgeschmackt fand: Freytag beschreibt das ganz einfach als säkularisierte Hirngespinste, die das wirkliche Leben (mit Ehe, Kindern, Besitz und Sorgen) als Kunst-unwürdig ausblenden.  Auch sein moralischer Blick tut mir gut: Um als hohe Frouwe zu qualifizieren, braucht man ein kaltes Herz, an dem sich die Verehrer reihenweise aufspießen. Andernfalls verliert man seine Ehre und damit die Basis der Verehrung. Er durchleuchtet die ganze Perversität einer schrägen höfischen Kultur, mit unglaublich blasphemischen Juxereien, in denen blankes Heidentum unter der dünnen Decke christlicher Kultur durchscheint, mit Bettelorden als größten Fanatikern fürs Volk…  Seine Kritik der Kreuzfahrten ist ebenfalls großartig.

Dann faszinierend die Analyse der Stärkung des Volks unter den Frankenkaisern. Das Gegenüber von römischem Erbe und germanischem Gefolgschafts-Ethos, manifestiert im Kampf der Päpste gegen die Kaiser (336 ff)

Man blickt durch das Vergrößerungsglas zeitgenössischer Erzählungen in ein Werden, das Freitag wohl im deutschen Kaiserreich von 1871 verwirklicht sah. Ein interessant anderer Blick als der heute herrschende. Nach langer Lektüre bin ich doch so versöhnt, dass ich mir auch noch den gesamten zweiten Band vornehme.

Hist, Jg

Info

Erscheinungsjahr19. Jh., 2. Hälfte
Seiten> 600
AutorFreytag, Gustav

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